„Und was mit allem dem, käm Amor nicht hieher?
Der weiß allein den Geistern aufzutischen:
Ein Mädchen ist nur Leim, Prometheus ist er,
Den Schlummer muß er ihm erst aus den Augen wischen.“36
GoethesGoethe, Johann Wolfgang PrometheusPrometheus schafft sich seine Menschen selbst, geschlechterdifferentGeschlechterdifferenz betrachtet heißt dies, nach seinem (Frauen-)Bild erschafft er sich die Frauen. Und zugleich droht ihm aus diesem Akt sein eigener Untergang. Denn sind die prometheischen Menschen so wie ihr Schöpfer selbst („wie ich“, V. 56), so muss Prometheus mit derselben Ablehnung rechnen, die er seinem Göttervater entgegenbringt. Man kann also insgesamt durchaus von einem Doppelgebrauch der Metapher Prometheus sprechen, die Schöpferkraft und Manneskraft, Genialität und SexualitätSexualität umfasst und damit einen zentralen Themenkomplex der Sturm-und-Drang-Sturm und DrangLiteratur formuliert. In dieser Literatur gibt es kaum einen respektloseren und damit provokanteren Text als Goethes PrometheusPrometheus -Ode, der die Themen der individuellen Selbstbestimmung, des Selbsthelfertums, der Rebellion gegen die väterliche Ordnung und die poetologische Selbstrechtfertigung auf solch unterschiedlichen Sinn- und Verweisungsebenen formuliert. Gekonnt und kritisch spielt der Text mit den Traditionen der biblischen und der antiken mythologischen Sinnverständigung. Der Beschreibung des psychohistorischen Konflikts eignet nicht nur eine individuell-familiäre Seite, die Auflehnung gegen den Vater, sondern auch eine sozialhistorische, die Auflehnung gegen Vaterautoritäten in Gesellschaft und Literatur. Prometheus erscheint dann als Widerständler gegen herrschende Normen. Die Gestalt des Gottvaters Zeus im Gedicht erschiene so gesehen als projizierte Vaterfigur oder als despotischer Landesfürst (in diesem Sinne wurde Prometheus wiederholt als Personifikation von Macht- und Autoritätsansprüchen verstanden, das Gedicht selbst musste insgesamt als Beleg für die politische, antifeudalistische Intention des Sturm und Drang dienen). Poetologisch lässt sich der Text als Programm der Absage an ein tradiertes Literaturverständnis lesen, gleichsam als eine metaphorische PoetikPoetik des Sturm und DrangSturm und Drang. In diesem Kosmos der Deutungsvielfalt darf aber nicht übersehen werden, dass PrometheusPrometheus letztlich in ein Dilemma gerät, denn er kann in der Schlussstrophe nicht den Vater meinen, dies wäre er selbst, sondern – genealogisch exakt gesehen – den Großvater. Ihm selbst sollen seine eigenen Geschöpfe den gleichen Respekt zollen, den Zeus von seinen Göttersöhnen erwartete. Der Konflikt zwischen Prometheus und seinen „Menschen“ (V. 50) ist unausweichlich, auch Prometheus’ Söhne und Töchter werden gegen ihren Vater rebellieren. Unwissentlich formuliert Prometheus hier, was er zu gewärtigen hat. Aus der Autorperspektive und der Rezipientenperspektive erscheint Prometheus als Figur der maßlosen Selbstüberschätzung als Folge des Geniewahns. Liest man Goethes Gedicht als poetologischen Subtext zum Sturm und Drang, so ist im Schluss der PrometheusPrometheus -Ode bereits das Wissen um das Ende des Sturm und DrangSturm und Drang eingeschrieben. Eine einheitliche Deutung gibt es nicht, das Gedicht lebt gerade von dieser Mehrdeutigkeit. So bleibt am Ende jener Wunsch stehen, mit dem bereits HederichHederich, Benjamin im Jahr 1770 seinen Prometheus-Artikel, der ja GoetheGoethe, Johann Wolfgang nachweislich bekannt war, beendet hatte und der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat: „Mehrere solche Deutungen kann sich ein jeder selbst machen.“37
Merck: Gedichtete Fabeln und lyrische Gedichte
„Wenn ich nicht fürchtete, eben so ein grämlicher Schwätzer zu werden, als manche von meinen Herren Collegen, so würde ich einige von den Fäden meiner Philosophie vor Ihren Augen aufziehen, und Sie würden vielleicht herzlich über den groben Teppich lachen“ (Br, S. 56)1. Das schreibt Johann Heinrich MerckMerck, Johann Heinrich an Sophie von La RocheLa Roche, Sophie von unter dem Datum des 21. Septembers 1771. Am Ende dieses Briefes stellt er der Adressatin in Aussicht, bald auch einige Verse zu schicken. Ob er dies ausgeführt hat, wissen wir nicht, an welche Verse er dachte, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Waren es versifizierte Fabeln, waren es die empfindsamen Lieder oder beschäftigte sich Merck mit anderen, neuen Gedichten?
Der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund und Förderer Merck wurde 1741 in Darmstadt geboren und starb ebenda 1791, und in der Höhle des Löwen, um gleich ein Fabeltier zu nennen, sollte man nicht unbedingt mit einem Aufklärungslämpchen archäologische Arbeiten verrichten wollen. In seiner Fabel Die Fackel und das LichtDie Fackel und das Licht lässt Merck den Streit darüber, wer von beiden bedeutender, wichtiger für die Menschen sei, so enden: „O gebt euch beyde doch zufrieden! / Sie da ist gröser – sprach er zu dem Licht, / Und du bist nützlicher. – So war der Streit entschieden“ (W, S. 92)2. Merck spielt damit auf die Fackel als SymbolSymbol der AufklärungAufklärung an. Auch wenn diese Fackel der Aufklärung, die stets eine Aufklärung des Verstandes bedeutet, schnell abgebrannt ist, so bleibt uns immer noch das Licht, das die Besserung der Herzen erhellt. Für diese Allusion gilt, was Merck am 28. Juni 1774 Friedrich NicolaiNicolai, Friedrich brieflich erklärt: „Der Deuter genießt immer ein sicheres Vergnügen, wenn er den Sinn der Allusion getroffen zu haben glaubt“ (Br, S. 114).
Es mag also erstaunen, vielleicht sogar befremden, dass Johann Heinrich Merck als Lyriker angesprochen wird. Ist er uns denn als Gedichteschreiber bekannt? Finden wir seine Verse etwa in Schulauswahlen oder in Anthologien?3 Merck, der Prosaist, Merck der Briefschreiber, MerckMerck, Johann Heinrich, der kulturelle Redakteur, der in den wenigsten Fällen geschäftlich erfolgreiche Unternehmer in der Res publica litteraria, der aufgeklärten Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, Merck, der Rezensent und Beiträger der wichtigsten Literaturzeitschriften des 18. Jahrhunderts, Merck, der Paläontologe und naturwissenschaftlich interessierte und gebildete Laie,4 schließlich Merck, der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund oder Merck, der Kriegsrat – all diese Etikettierungen sind uns hinlänglich bekannt. Aber Merck, der Lyriker? Ein Autor, zu dessen Lebzeiten niemals ein Gedichtband erschienen ist?
Es nimmt nicht wunder, wenn wir einen Blick in die einschlägige, gleichwohl spärliche Forschungsliteratur zu Johann Heinrich Merck werfen, dass seine Lyrik keineswegs Gegenstand großen wissenschaftlichen Interesses bislang gewesen ist. Franz MunckerMuncker, Franz sieht in seinem Merck-Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie (1885)5 in den Fabeln LessingsLessing, Gotthold Ephraim und in Mercks lyrischen Versuchen den Einfluss der Dichter des Halberstädter und Göttingischen Kreises, aber auch den Einfluss HerdersHerder, Johann Gottfried am Werk. Muncker bescheinigt diesen Gedichten gleichwohl tiefe und zarte Empfindung.6 1911 bietet Hermann Bräuning-Oktavio in einem Aufsatz neu entdeckte Gedichte von Merck.7 In Helmut Prangs Monografie Johann Heinrich Merck. Ein Leben für andere (1949)8 finden sich nur marginale Bemerkungen zum Thema. Anders verhält es sich in einer späteren Publikation Hermann Bräuning-Oktavios, er veröffentlicht 19619 in einem Aufsatz auszugsweise, dann 1962 in einer Buchpublikation erstmals vollständig alle Fabeln aus der Feder Mercks. Es handelt sich dabei um die Darmstädter Handschrift, die heute in der Hessischen Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt aufbewahrt wird.10 Zuvor waren von den 73 Fabeln, von denen insgesamt nur noch 71 erhalten sind, schon 17 durch Karl Wagner 1835 veröffentlicht worden, allerdings teilweise mit erheblichen Weglassungen durch den Herausgeber. Gerhard Sauder würdigt die Fabeln und Gedichte Mercks in seinem Jubiläumsaufsatz von 1991.11 Walter Pabst (1993)12 druckt in seinem Aufsatz MercksMerck, Johann Heinrich Gedicht Michel Angelo ab und schließt eine 21-zeilige Paraphrase an. Zum 210. Todestag und 260. Geburtstag Mercks legte Walter Schübler ein Buch vor mit dem Titel Johann Heinrich Merck 1741–1791. Biographie (Weimar 2001). Diese Arbeit ist eine durch Kommentare unterbrochene Auslese aus Mercks Briefen, seinen Schriften und zeitgenössischen Dokumenten, eben ein „kaleidoskopisches Porträt“13. Auch hier finden wir über Mercks Lyrik wenig.
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