„Ich leb wie ewig, und ieder von Prometheus wahren Söhnen im innern Krieg der Kräfte und Thätigkeit mit den Grenzen die die Menschen den halb Göttern gelegt haben, und das zu ihrer Behaglichkeit, weil sie sonst ewig ecrasirt würden! Bruder! der Menschen Sache sind zwey: Schaffen und Zerstöhren“7.
Bei HeinseHeinse, Wilhelm und LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, bei BürgerBürger, Gottfried August und StolbergStolberg, Friedrich Leopold Graf zu, bei KlingerKlinger, Friedrich Maximilian – sein Dramolett Der verbannte GöttersohnDer verbannte Göttersohn 8 (1777) verweist bereits im Titel auf den Prometheus-Mythos –, bei WagnerWagner, Heinrich Leopold9 und HerderHerder, Johann Gottfried und anderen taucht die PrometheusPrometheus-Figur auf. Die Achtung vor dem aufmüpfigen Göttersohn der Fabel weicht aber im Sturm und DrangSturm und Drang zunehmend einer vorbehaltlosen Bewunderung, ja Identifikation. Dieser Überblendungsprozess geht so weit, dass am Ende kaum mehr ein Unterschied auszumachen ist zwischen dem Identifikation stiftenden Vorbild des Mythos und dem Selbstwertgefühl der Autoren. Bei Jakob Michael Reinhold Lenz heißt es knapp in seinem Gedicht Lied zum teutschen TanzLied zum teutschen Tanz : „Frei wie der Wind / Götter wir sind“10. Diese Verwischung der Differenzen zwischen antikem Mythos, dessen neuzeitlicher Anverwandlung und der Eignung des Mythos als Projektionsfläche und Programmforum hat in der Goethe-Forschung immer wieder dazu geführt, in Goethes PrometheusPrometheus ausschließlich ein poetologisches Programmgedicht zu sehen.11 ShaftesburyShaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl ofs ‚second maker‘ steht hierbei Pate, Prometheus wird also als Künstler, als zweiter Gott dechiffriert. Die Bedeutung der Schöpferkraft in Goethes Gedicht soll nicht bestritten werden, spricht doch schon Herder in der Einleitung zur zweiten Sammlung seiner Schrift Über die neuere Deutsche LitteraturÜber die neuere deutsche Literatur (1767) vom Genie als einem „zweite[n] Prometheus“12, und in seiner ShakespearShakespear -Abhandlung (1772) nennt HerderHerder, Johann Gottfried das Sturm-und-Drang-Sturm und DrangGenie einen „glückliche[n] Göttersohn“13. Auch Wilhelm HeinseHeinse, Wilhelm schöpft den Bildbereich des Prometheus-Mythos als dichterischer Schöpfungskraft aus. Im ersten Kapitel seiner Dogmatik für junge GenieenDogmatik für junge Genieen , die zuerst 1775 im Deutschen Merkur erschien, legt er dar, wer beim Studium der antiken und der klassischen Texte, Skulpturen und Kompositionen „das allgegenwärtige Feuer der Gottheit“ in sich spüre und „in heftigen Wallungen alle Lebensgeister anschwellen“ fühle und wessen Blick sich dann der „Schöpfungsgeist“ zeige, der habe die Anlage zum Genie.14 Gar von der „Feuerkraft des Gefühls“15, die ein Genie auszeichne, ist wenig später die Rede. EmpfindsamEmpfindsamkeit vermittelt, doch in der Sache ähnlich, personifiziert Friedrich Leopold Graf zu Stolberg in seiner Programmschrift Über die Fülle des HerzensÜber die Fülle des Herzens (1777) Dichtkunst und poetische Schöpferkraft als PrometheusPrometheus-Gestalt. Dort heißt es, fast schon hymnisch-psalmodisch: Auf Adlersflügeln erhebe sich der Geist und entzünde seine Fackel am himmlischen Feuer, die göttliche Dichtkunst erhebe das Herz, fliege gen Himmel – die Nähe zu PlatonsPlaton PhaidrosPhaidros ist augenfällig – und nehme die Flammen vom Altar.16 Unverkennbar geht es auch um den Aufweis, dass Dichtung, und das meint die Dichter, mit mehr als nur menschlicher Autorität sprechen.
Die Epitheta, mit denen der Mythos Prometheus stets angereichert wurde, reichen vom gefesselten Prometheus (AischylosAischylos) über den gekreuzigten Prometheus (LenzLenz, Jakob Michael Reinhold) und den ungefesselten Prometheus (ShelleyShelley, Percy Bysshe) bis hin zum schlechtgefesselten Prometheus (GideGide, André), dem Dulder Prometheus (SpittelerSpitteler, Carl) und dem Prometheus-Komplex (BachelardBachelard, Gaston), ohne sich darin zu erschöpfen. In seinem kleinen Aufsatz Psychopathische Personen auf der BühnePsychopathische Personen auf der Bühne 17 (1905/06) schreibt Sigmund FreudFreud, Sigmund, dass ein Drama seelisches Leiden inszeniere, das aus der Entwicklung der dramatischen Handlung einsichtig gemacht werden müsse. Der Zuschauer wolle sein Ich in den Mittelpunkt stellen, Dichter und Schauspieler ermöglichten ihm dies über die Identifikation mit einem Helden. Im Drama werde das ausgespielt, was im wirklichen Leben des Zuschauers nicht gestattet sei, das Aufbegehren gegen den Zwang zur Bändigung der LeidenschaftenLeidenschaften. Freud nennt dies die „Prometheusstimmung des Menschen“18. Der Mensch ist demnach kein „gekreuzigter Prometheus“19 mehr, wie dies LenzLenz, Jakob Michael Reinhold über GoethesGoethe, Johann Wolfgang Werther-Figur gesagt hatte. Goethe verzichtet in seinem PrometheusPrometheus auf diese Attribuierungsmöglichkeit, denn sie ist in den Text selbst hineingenommen.
Anders als die Dichtungen des Göttinger HainGöttinger Hain, die eher einer ästhetizistischen Richtung in der Lyrik des Sturm und DrangSturm und Drang zuzurechnen sind, welche im Formalen durchaus Erweiterungen hervorbrachte, im thematisch-inhaltlichen Bereich aber konventionell blieb, gehören GoethesGoethe, Johann Wolfgang mit dem eingeführten Kunstbegriff Sesenheimer LiederSesenheimer Lieder benannte Sturm-und-Drang-Lyrik und seine Prometheus -Ode zu den innovativsten lyrischen Zeugnissen der Literatur des Sturm und Drang.20 Mit guten Gründen wurde in der Forschung davor gewarnt, verallgemeinernd alle Jugendgedichte Goethes schlechthin als Dokumente überschießender Genialität zu bewerten.21 Die meisten Gedichte der Leipziger und Straßburger Zeit sind konventionell, dem Zeitgeschmack verhaftet, in Form und Inhalt die Erwartungen der Adressaten bestätigend. Zu bedenken ist ferner, dass diese Gedichte teils erst mehrere Jahre nach ihrer Entstehung von Goethe veröffentlicht wurden, einige erschienen 1775 in der Zeitschrift Iris , andere erst 1790 im Rahmen seiner ersten Gesamtausgabe.
Die Prometheus -Ode entstand 1773 oder 1774 und wurde erstmals 1785 veröffentlicht.22 Die von Prometheus in Anspruch genommene Freiheit findet ihre formale Entsprechung in den freien Rhythmen des Rollengedichts, das auf ein Reimschema verzichtet. Das lyrische Ich spricht als die mythologische Figur des Prometheus. GoetheGoethe, Johann Wolfgang greift damit ein Selbstbild der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren auf. PrometheusPrometheus reklamiert mit emanzipatorischer Geste eine eigene, selbstgeschaffene Welt für sich. Die Possessivpronomen in den ersten beiden Strophen zeigen dies an: von ‚meiner Erde‘, ‚meiner Hütte‘ und ‚meinem Herd‘ ist da die Rede (vgl. V. 6, 8, 10)23.
Gleich der erste Satz wird mit einem Imperativ abgeschlossen, der Befehl ist an den Göttervater selbst gerichtet, drohend richtet sich der rebellierende Göttersohn Prometheus auf gegen Zeus. Prometheus ist nicht ein „liebender Forscher des Wahren , Guten und Schönen “24, wie es in einem 1622 von Tommaso CampanellaCampanella, Tommaso publizierten und 1802 von HerderHerder, Johann Gottfried übertragenen Gedicht hieß. Eher trifft eine Äußerung – folgt man der Darstellung Heinrich Leopold WagnersWagner, Heinrich Leopold, des Übersetzers von MerciersMercier, Louis-Sébastien Nouvel EssaiNouvel Essai 25 – von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold über die Hauptfigur von Goethes PrometheusPrometheus -Dramenfragment26 zu, die auch den Prometheus des Gedichts zu charakterisieren in der Lage ist: „Dieser Prometheus ist ein Götterverächter“27. Bei Goethe geht es um Machtanspruch und Machtverteilung, ja Gebietsverteilung: den Himmel dem Zeus, die Erde dem Prometheus. Damit wird das Gedicht eröffnet. Die Stiftung der Kulturgüter Hausbau und Feuermachen wird von Prometheus beansprucht; aus dem Zeus unterstellten Neid auf diese Leistung kann man schließen, dass er selbst dessen unvermögend ist. Der Göttervater wird als keineswegs allmächtig entlarvt. Die ersten beiden Strophen setzen die Erkenntnis frei, dass die Welt der Götter längst nicht die Erwartungen einzulösen vermag, die mit dem Anspruch auf Allwissenheit und Allmacht verbunden sind. Die wahre kulturelle Tat leistet der Nicht-Gott Prometheus. Deutlich distanziert er sich von Zeus und allen anderen Göttern, er fühlt sich ihnen nicht mehr zugehörig. Es geht nicht um den Kampf der Titanen, nicht um die Psychomachie „Gott gegen Gott“28, wie es LenzLenz, Jakob Michael Reinhold in seiner Catharina von SienaCatharina von Siena formuliert hatte, es geht vielmehr um die alte aischyleischeAischylos Frage: „Herr sein, oder Knecht“29. PrometheusPrometheus rechnet auf, zivilisatorische Tat gegen Opfertribute und Gebetsbeteuerungen. Von Kindern und Bettlern (vgl. V. 18) sind die Götter abhängig, von der Narrheit der Menschen, die einfältig an die Götter glauben. Aus diesem exklusiven Kreis grenzt sich Prometheus also deutlich aus. Prometheus macht sich selbst zum Menschen – ist Prometheus am Ende wahrer Mensch, wobei dieser Begriff durchaus christologische Implikationen als ‚wahrer Mensch und wahrer Gott‘ enthält?
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