Klara ist nicht exorzistisches und therapeutisches Objekt des Gotteslogos, es ist auch nicht die Rede von „etliche[n] Frauen, die er [JesusJesus] gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, genannt Magdalena, von der sieben Dämonen ausgefahren waren“ (Lk 8, 2a). Von allen guten Geistern verlassen wird Hebbels Maria Magdalena krank gemacht, nicht von Ferne schaut sie dem Kreuzestod des Sohnes zu, wie die biblische Magdalena, „und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena“ (Mk 15, 40). Sie selbst ist diejenige, die getötet wird. „Gott im Himmel, ich würde mich erbarmen, wenn ich du wäre und du ich!“ (II/5), fleht Klara mit Tränen der Verzweiflung und nicht der Empfindung. Schon BüchnersBüchner, Georg Lenz hielt dem Gottesmann und Papa genannte Oberlin entgegen: „Aber ich, wär’ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten […].“28 Bei Hebbel widerstreitet der Leidenschaft der Tochter der Vaterlogos, Versöhnung gibt es auf der Ebene des Begehrens nicht mehr. Der Leidenschaftsdiskurs ist nun einem Gewaltdiskurs eingeschrieben.
Schon 1934 arbeitete Leo LöwenthalLöwenthal, Leo diese Form der RezeptionRezeptionsanalyse heraus. Sie diene dem „Studium derjenigen Faktoren […], die über die bloße Machtapparatur hinaus durch ihre psychische Gewalt eine gesellschaftlich konservierende und retardierende Funktion ausüben“29. Allgemein versteht Löwenthal Kunst und Religion als diejenigen gesellschaftlich produzierten affektiven Ausdrucksformen, „in denen sich mehr oder minder intensiv entrechtete Schichten mit der sozialen Wirklichkeit abzufinden suchen und andere den Triumph in ihr verklären“30.
Klara ist Delinquentin des Vaterwortes, noch bevor sie um ihre Schwangerschaft weiß.
„AristotelesAristoteles hat auf die dramatische Kunst vielleicht noch schlimmer eingewirkt durch seine Bestimmung, daß die Tragödie FurchtFurcht und MitleidMitleid erwecken solle, als durch seine Einheiten. Und doch ist jene richtig, wenn man nur eine Beschreibung des Gemütszustands, den die TragödieTragödie hervorbringen muß, falls sie echt ist, nicht für die Definition ihres Zwecks hält. Allerdings muß die Tragödie Furcht erregen, denn wenn sie es nicht tut, so ist dies ein Beweis, daß sie aus nichtigen Elementen aufgebaut ist, und wenn sich zu dieser Furcht nicht Mitleid gesellt, so zeigt es an, daß die dargestellten Charaktere oder die Situationen, in die sie hineingeraten, sich vom Menschlichen und vom Möglichen oder doch Wahrscheinlichen zu weit entfernen“31.
Dies notiert HebbelHebbel, Friedrich in sein Tagebuch im Dezember 1845 und wenig später nennt er Aristoteles in seiner Rezension des 1847 erschienenen Briefwechsels zwischen SchillerSchiller, Friedrich und KörnerKörner, Christian Gottfried immerhin wieder den „größte[n] Kunstrichter aller Zeiten“32, übrigens ist auch dies eine abgegriffene Formel aus dem aufgeklärten poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Kann dies als ein später Widerruf Hebbels gelesen werden? Wird hier nicht doch wieder die KatharsisKatharsis a tergo eingeführt? Die Abwesenheit des Wortes ist seine Signifikanz: Die Evokation von Furcht und Mitleid wird genannt, nicht aber deren oder anderer Leidenschaften Katharsis.
Die Einsicht in das tragische Geschehen, die Suche nach jener Notwendigkeit, von der Hebbel im Vorwort zur Maria MagdalenaVorwort zur Maria Magdalena spricht, kann nicht der Logos vermitteln. Die Worte haben ihre Eindeutigkeit innerhalb einer aufgeklärtenAufklärung Vernunftordnung verloren, die traditionell hermeneutische Suche nach SinnSinn muss erfolglos bleiben, da es keinen Sinn mehr gibt. Die „Rebellion im Kopf“ (III/3), von der Leonhard spricht, betrifft nicht den rebellischen Kopf, der die Rebellion gegen jene Gewaltverhältnisse richtet, die erst die Kopf- und Vernunftlosigkeit produzieren. Nicht die LeidenschaftenLeidenschaften, wie es das aufgeklärte Bürgerliche TrauerspielBürgerliches Trauerspiel noch glaubte, bedrohen die Autonomie des Individuums und dessen Vernünftigkeit, sondern allein die sozialen und familialen Gewaltverhältnisse sind es, die diese Leidenschaften kriminalisieren. Die Angst des Vaters vor der gesellschaftlichen Stigmatisierung, Großvater eines unehelichen Enkelkinds zu sein, ist größer als die Furcht vor dem Selbstmord der Tochter. In der kleinbürgerlichen Familie gibt es nicht mehr den zärtlichen Vater und die zärtliche Tochter, wie in der empfindsamenEmpfindsamkeit Literatur der Aufklärung. Umso signifikanter sind die Strukturhomologien zwischen LessingsLessing, Gotthold Ephraim Bürgerlichem Trauerspiel Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson und der Maria MagdalenaMaria Magdalena . Die „Vorrechte der väterlichen Huld“33 bezeichnen eine generöse Haltung, die der Schreinermeister Anton – Repräsentant der Signifikanten A und O, Alpha und Omega, des Anfangs und des Endes – nicht kennt. Hingegen „die Rechte der väterlichen Gewalt gegen das Kind brauchen“34, wie es der in die Freundschaft – und das soll in Lessings Diskurs besagen: Gleichheit – entlassene Diener Sir William Sampsons Waitwell gegenüber Sara formuliert, das ist ein Recht, auf das nicht verzichtet werden kann, weil nur dies die Ordnung der patriarchalen Familien- und Gesellschaftsform sichern hilft. In dreifacher Hinsicht ist der Vater Herrschaftszentrum patriarchaler Gewaltverhältnisse: Erstens in der Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau, zweitens im binnenfamiliären Vater-Kind-Verhältnis und drittens in der sozialen Herr-Knecht-Opposition.35 Früh müssen die Mütter aus dem empfindsamen Figurenensemble ausscheiden, da sie eigentlich keine Funktion erfüllen, ihrer dramaturgischen Abwesenheit entspricht ihre gesellschaftliche Unterdrückung. Auch Sara bezichtigt sich selbst, eine „Muttermörderin“ und „vorsätzliche Vatermörderin“36 zu sein. Bei HebbelHebbel, Friedrich wird der Sohn vom Vater des Muttermordes beschuldigt – „der Karl […] hat die Mutter umgebracht“ (I/7) –, während die Tochter „lieber“ „Selbstmörderin“ und „zugleich Kindesmörderin“ (III/4) wird, als „Vatermörderin“ (III/4) zu sein. Allerdings kann in der Maria MagdalenaMaria Magdalena kein gebildeter, will sagen kein vernünftiger Vater wie etwa bei LessingLessing, Gotthold Ephraim einen versöhnlichen Brief an die verstoßene Tochter schreiben und durch den Diener expedieren lassen. HebbelsHebbel, Friedrich Meister Anton vermag seiner Tochter nur einen Schwur abzupressen. Der Vater redet im delirierenden Diskurs der Tochter zur Prostitution zu, „ sehr sanft “ (I/7), wie es in der Regieanweisung heißt, mit sanfter Stimme spricht er sein Todesbegehren aus. Das Begehren, durch die Hand der Tochter getötet zu werden, das ist die eigentliche Drohung mit Gewalt.
In der Hebbel-Forschung ist diese Vaterrede mit einem Höchstmaß an Interpretierbarkeit ausgeschöpft worden, so wurde etwa von der „erotische[n] Anziehungskraft Klaras“37 gesprochen. Der kleinbürgerliche Handwerker verschweigt aber das, was er begehrt und das ist die Macht der generellen Verfügbarkeit über den Frauenkörper. Es geht hier also keineswegs um erotische Qualitäten der Tochter, sondern um das Verhältnis von SexualitätSexualität und Macht. Mit Begriffen wie „Liebeserklärung des Vaters“38 und ‚erotische Anziehungskraft‘ droht eben diese Verschränkung nivelliert zu werden. Dass diese auch ökonomische Macht impliziert, verdeutlicht Hebbel selbst. In der 1837 geschriebenen und 1848 veröffentlichten Erzählung Schnock. Ein niederländisches GemäldeSchnock. Ein niederländisches Gemälde heißt es beispielsweise:
„Ja, sie ging zuletzt so weit, daß sie ihre ökonomischen Rücksichten auf meinen eigenen Körper ausdehnte und mir die unnütze Anstrengung desselben, wie sie sich ausdrückte, verbot, mir zum Beispiel die Erfüllung der ehelichen Pflichten nur selten verstattete; vermutlich, weil sie die Kosten einer Umarmung nach Heller und Pfenning abzuschätzen verstand und weil sie nun kalkulierte, daß ich meine Kräfte nützlicher und fruchtbringender im Handwerk anlegen könne, als in der Liebe.“39
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