Die erste Szene des Stücks spielt in einer Bauernhütte und evoziert damit bereits durch die Requisite eine soziale Thematik. Tolon, immerhin „gewesener Minister an dem Hofe eines Prinzens“ (S. 6), packt seine Reisesachen aus, darunter eine versiegelte Schrift. Seine ersten Worte geben zu erkennen, dass er sich in seinem Elternhaus befindet, er selbst also aus einer Bauernfamilie stammt. Dieser Herkunftsverweis ist insofern wichtig, als er auf die grundsätzliche Möglichkeit einer sozialen Karriere in diesem Fürstentum verweist. Auch ein Bauer kann Minister werden, eine aristokratische Abstammung ist keineswegs zwingend notwendig. Tolon bittet seine Mutter, das versiegelte Papier unter dem Getreide zu verstecken. Damit macht der Sohn die Mutter zur Mitwisserin und bringt sie wissentlich in Gefahr, denn er ist auf der Flucht. Im Gegensatz zu den meisten Bürgerlichen Trauerspielen der Zeit ist im Tolon die Mutter am Leben, die bäuerliche Kleinfamilie also intakt.17 Allerdings könnte die Anrede „Mutter“ (S. 7) durch Tolon grundsätzlich auch als eine allgemeine zeitgemäße Anrede gelesen werden und würde dann nicht als Beleg für eine familiäre Filiation gelten können. Dass sie Tolon mit „mein Herr“ (S. 7) anspricht, könnte darauf hindeuten. Tolon verpflichtet sie zur Verschwiegenheit. Daraufhin vernichtet er verschiedene Papiere. Sein Monolog im zweiten Auftritt reproduziert sprachlich eine typische Interjektion der Sturm-und-Drang-Dramen. Kaum ein Dramenheld dieses Typs kommt ohne sie aus: „Ha!“ (S. 8)18 Tolon räsoniert über seinen Sturz, er ist Opfer einer politischen Intrige geworden, durch die er die Gnade des Fürsten und die Möglichkeit, direkt mit ihm zu kommunizieren, verloren hat. Er erwähnt seine Güter, die er nun verlieren wird, und unterstreicht damit nochmals seine privilegierte soziale Stellung. Damit ist also von Beginn an eng der literarische mit dem politischen Diskurs verflochten. Dann tritt Amalie auf. Dieser Name entfaltet mehrere Anbindungsmöglichkeiten. In Benjamin PfeilsPfeil, Johann Gottlob Benjamin (1732–1800) Drama Lucie WoodvilLucie Woodvil (1756), das neben LessingLessing, Gotthold Ephraims Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) als der Prototyp des deutschsprachigen empfindsamenEmpfindsamkeit Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel gilt, taucht dieser Name auf. Möglicherweise hat Kraus sogar auf PfeilsPfeil, Johann Gottlob Benjamin Amalie-Figur Bezug genommen. Das empfindsame Vorbild der literarischen Amalie-Figur ist aber in Christian Fürchtegott GellertsGellert, Christian Fürchtegott (1715–1769) Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von G***Das Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747/48) zu finden. Da es sich um einen Epochenroman der aufgeklärten Empfindsamkeit handelt, kann angenommen werden, dass er KrausKraus, Joseph Martin oder zumindest dem schulischen Umfeld in Mannheim nicht unbekannt geblieben war. Daneben ist Amalie ein Vorname adeliger Regentinnen, der zur Zeit von Kraus’ Beschäftigung mit dem TolonTolon -Material manche Aristokratin zierte. Die deutsche Übersetzung von Voltaires Tragödie Amalie erschien 1773. Und das anonyme Drama Amalie, unglücklich durch ihre StiefmutterAmalie, unglücklich durch ihre Stiefmutter (1777) nimmt den Namen in der Titelfigur wieder auf. Schließlich ist eine Amalie in SchillersSchiller, Friedrich RäubernDie Räuber (1781) die Geliebte des Räuberhauptmanns Karl von Moor. Amalie, oder einige Züge der wahren GrosmuthAmalie, oder einige Züge der wahren Grosmuth (1770) von Christoph Heinrich KornKorn, Christoph Heinrich (1726–1783) runden die Bezugsmöglichkeiten ab.
Der Name Tolon hingegen gibt Rätsel auf, möglicherweise ist ihm Kraus in einem der Reiseberichte über die griechische Stadt Tolon begegnet, vielleicht war ihm aber auch bekannt, dass Tolon auch ein spanischer Familienname ist. Unabhängig davon kann das Wort Tolon auch als ein doppeltes Anagramm aus Not und Ton gelesen werden. Mit dem Wort Ton läge der Verweis auf die musikalische Begabung des Autors vor, mit dem Wort Not wäre der mutmaßlich entscheidende Grund zur Entstehung des Dramas eingefangen, die unberechtigten Korruptionsvorwürfe gegen den Vater. Aber auch diese Deutung ist möglich: Der Name Tolon lässt sich aus dem Wort Revolution anagrammieren und enthielte dann ein revolutionäres Potenzial, das aber nicht zur Entfaltung kommt.
In der Bauernstube begegnet Tolon seiner Geliebten Amalie, die dort auf der Suche nach ihm Unterschlupf gefunden hat. Sie versichern sich ihrer gegenseitigen Liebe, womit das Motiv der Mitwisserschaft und Mittäterschaft eine emotionale Bindung erfährt. Denn Amalie ist die Tochter von Jennemer, „eines vornehmen Hofbedienten“ (S. 6), der Teil der Verschwörung gegen Tolon ist. Aber Amalie hat die Absichten ihres Vaters durchschaut, der sie mit Barwill, einem Regimentsoberst und Kopf der Verschwörung, verheiraten will. In dem Wortwechsel zwischen Amalie und Tolon findet sich manch ein Satz, der einem Zitat aus einem Lehrbuch über moralisch tugendhaftes Verhalten gleicht. Tolon durchbricht ein klassisches GenderstereotypGenderstereotyp, wenn er wörtlich für sich EmpfindsamkeitEmpfindsamkeit reklamiert, die darin besteht, dass er wegen „seiner Redlichkeit“ (S. 13) leiden muss. Die Welt hält er für ungerecht, da sie die Menschen nach ihrem Äußeren, ihrem sozialen Status oder politischen Einfluss beurteilt. Amalies Vater ist ein Beispiel dafür, er hat die Hochachtung für Tolon in dem Moment verloren, als Tolon seinen privilegierten Status auf der politischen Bühne einbüßt. Amalie wirft er sogar vor, sie halte die Welt für besser, als sie tatsächlich sei. So gesehen kann es sich bei dieser Welt nicht um die beste aller möglichen Welten handeln. KrausKraus, Joseph Martin spielt an dieser Stelle ironisch mit der leibnizschenLeibniz, Gottfried Wilhelm Theodizee. Für Tolon ist das Fühlen und in dessen ethischer Erweiterung das Mitfühlen und MitleidenMitleiden die Voraussetzung dafür, dass seine Unschuld erkannt wird. Wer ihn für schuldig hält, verfügt nicht über diese sozial-ethische Kompetenz.
Im vierten Auftritt zitiert Kraus die passionsgeschichtliche Ikonografie. Jennemer tritt in die Bauernstube, umarmt Tolon, nennt ihn seinen Freund und küsst ihn. Doch es ist nicht der zeitgenössisch übliche empfindsame Freundschaftskuss, sondern ein Judaskuss. Die Freundschaft, deren sich Tolon bei Jennemer versichert, ist geheuchelt. Das Gespräch kreist um den Begriff des Mitleidens, Tolon fordert „ein wirksames Mitleiden“ (S. 16), also ein Mitleiden, das auch konkretes Handeln zur Folge hat. Tolon ist sich keiner Schuld bewusst, und der Autor lässt die Leser auch immer noch im Unklaren darüber, was denn nun eigentlich vorgefallen ist. Allerdings erhebt Tolon sein Unrechtsbewusstsein zum Selbststolz, er sei stolz auf seine Redlichkeit, lässt er Jennemer wissen. Er gleicht in dieser Haltung sowohl einem lessingschen Prototypen tugendhaften Handelns als auch der Unbeugsamkeit eines Sturm-und-Drang-Sturm und DrangHelden. Jennemer bestätigt sein Versprechen, einer Heirat zwischen Amalie und Tolon zuzustimmen, er fordert von seiner Tochter Vertrauen in sein väterliches Wort. Als es klopft, erschrecken alle außer Jennemer. Die Affektsprache wird von Kraus in den Regieanweisungen sehr konkret definiert, was gelegentlich bis an die Unspielbarkeit grenzt, wenn sich beispielsweise die Gesichtsfarbe einer Figur verändern soll, – so etwa in dieser Regieanweisung, wo es über Tolon heißt: „man kann an den Abändrungen der Farbe in seinem Gesichte wahrnehmen, was in ihm vorgeht“ (S. 41) – und was als Hinweis darauf gesehen werden kann, dass es sich um ein Lesedrama handelt. In dieser gattungstypologischen Zuweisung ist ein weiteres Merkmal eines Sturm und Drang-Dramas zu erkennen. Tolon blickt in dieser fünften Szene furchtsam, Amalie erschrocken, Jennemer lächelt und Barwill, der mit einer Soldateska eintritt, sieht Tolon mit wilder Freude an. Der Verrat des Jennemer offenbart sich, er übergibt Tolon als Gefangenen an Barwill und erklärt seine Tochter zu Barwills zukünftiger Frau.
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