Die frühen literarischen Texte – seine späteren Textvertonungen und Libretti werden hier nicht mitgerechnet – von Joseph Martin Kraus sind in ihrer literaturhistorischen Bedeutung nach wie vor nur wenig erhellt. Das beginnt schon mit einem Gedichtband, der heute als verschollen gilt und dessen Titel nicht verifiziert werden konnte. Hieß das Büchlein tatsächlich Versuch in SchäfersgedichtenVersuch in Schäfersgedichten , wie in der Kraus-Forschung tradiert wird, und erschien es in Mainz im Jahr 1773? Oder hieß es vielleicht doch Idyllen ? Oder trugen die Gedichte einen völlig anderen Titel? Gab es ein Autodafé von Kraus in Stockholm? Wollte er von dieser Arbeit nichts mehr wissen? Immerhin hat er einige eigene Gedichte und ähnliche Gedichte anderer vertont. Erhalten geblieben ist dieser Gedichtband nicht, selbst nicht in Kraus’ eigenem Nachlass. Es sollen insgesamt 15 Schäfergedichte gewesen sein, immerhin hat am 5. Oktober 1800 sein ehemaliger jesuitischer Musiklehrer Pater Alexander KeckKeck, Alexander (1724–1804) bestätigt, dass er damals ein Bändchen mit den Gedichten von Kraus erhalten hatte.10
Der Versuch in SchäfersgedichtenVersuch in Schäfersgedichten bleibt weiterhin geheimnisumwittert. Denn nicht auszuschließen ist, dass es sich um eine philologische Mär handelt. Die Fakten sind dürr, wir wissen lediglich, dass KrausKraus, Joseph Martin eine Handvoll Gedichte in Art traditioneller Schäferlyrik geschrieben hat und diese in Mainz 1773 drucken ließ. Allerdings macht der Titel stutzig. Denn dieser Titel wäre die namensgleiche Reprise des Gedichtbands Versuch von Schäfer-Gedichten und andern poëtischen AusarbeitungenVersuch von Schäfer-Gedichten und andern poëtischen Ausarbeitungen (o.O. [Dresden] 1744) von Johann Christoph RostRost, Johann Christoph (1717–1765). Nach der Erstauflage von 1744 folgten mehrere Nachdrucke und Neuauflagen, so in den Jahren 1748, 1751, 1760, 1768 und zuletzt in einer neuen, vermehrten Auflage 1778. Einem „I. Krauß“ wird ein Buch mit dem Titel Versuch in Schäfer-Gedichten (Maynz 1774 [!]) zugeschrieben. Quelle ist das Buch Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod (Bd. 2, Berlin 1798, S. 193) von Erduin Julius KochKoch, Erduin Julius. Wir wissen nicht, ob ihm ein Original vorlag oder ob auch er diese Daten nur vom Hörensagen kannte. Nach heutigem Stand der Wissenschaft lässt sich das nicht mehr rekonstruieren, man ist auf Zufallsfunde angewiesen. Da die Titelgleichheit von Rosts Gedichtband und Kraus’ Gedichtband also zu auffällig ist, muss man so lange von einer Verwechslung oder einem gravierenden Irrtum der Überlieferung ausgehen, bis tatsächlich der Gedichtband von Kraus eines Tages auftauchen und zu autopsieren sein wird.
Der Musiker und Musikkritiker Birger Anrep-Nordin (1888–1946) stützt sich in seiner schwedischen Dissertation Studien über Josef Martin Kraus (Stockholm 1924) auf Samuel SilverstolpeSilverstolpe, Samuel (1769–1851) und dessen Kraus-Biografie, die auf Schwedisch 1833 in Stockholm erschienen ist.11 Aus der Beschreibung Silverstolpes, dass es sich bei Kraus’ Gedichten um Idyllen handle und Kraus selbst sie einen „Versuch“ genannt hatte, ist im Laufe der Überlieferungsgeschichte mutmaßlich der an Rost angelehnte Titel Versuch in Schäfersgedichten geworden. Nach Anrep-Nordin erscheint der Titel in der Wissenschaft mit unterschiedlichen Schreibweisen, die aber lediglich auf orthografischen Ungenauigkeiten beruhen. Dass SilverstolpeSilverstolpe, Samuel selbst ein Exemplar vorgelegen hat, kann angenommen werden. Der Versuch, in seinem Nachlass und dessen Umfeld fündig zu werden, blieb ohne Ergebnis. Silverstolpe spricht jedenfalls von 15 Idyllen und 47 Druckseiten. Er schreibt:
„Zu dieser Zeit überließ er sich zum ersten Mal dem Reiz, Schriftsteller zu sein. Er schrieb damals die Idyllen zusammen, 15 an der Zahl, welche Herr Klein in seinem Brief erwähnt, und ließ sie 1773 in Maynz [!] mit seinem Namen auf dem Titelblatt drucken. Sie ergaben 47 Seiten in kleinem Oktavformat. In seinem Vorwort bat er um ‚Nachsicht, wenn er sich bei dieser ersten Arbeit, mit der er sich in die Welt hinauswagte, gegen die Sprache und gegen das Natürliche versündigt habe, das in Idyllen herrschen sollte.‘ – Wenn man bedenkt, dass er sich im Alter von 17 Jahren an eine der heikelsten Gesangsarten sogar für den ungebundenen Stil wagte, fürchtet man doch, dass seine Entschuldigung in letzter Hinsicht nötig ist. Aber stattdessen erkennt man in diesem sicherlich auf sein Betreiben so genannten Versuch alle Spuren der einfachen und edlen Eingebungen der Natur. Die Einfalt und Zufriedenheit des tugendhaften Hirtenlebens durchdringt die kleinen Geschichten; sie sind sozusagen planlos und im Ausdruck frei von allem Anspruch. Es ist erwähnenswert, dass die gleiche Reinheit der Empfindung sich in seinen zwei und drei Jahre später gewagten Musikkompositionen für die Kirche offenbart, welche mit ihrer geringeren Vollkommenheit bezeugen, dass Tonkunst und schöne Literatur bei KrausKraus, Joseph Martin die gleiche Urquelle hatten, die Natur.“12
Gemeinhin bezeichnet man die Periode der Jahre 1770 bis 1776 in der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte als die Hochphase des Sturm und DrangSturm und Drang.13 1776 erscheint das Drama TolonTolon , KrausKraus, Joseph Martin ist eindeutig der Verfasser, obwohl auch dieser Text – wie in der Zeit üblich – anonym erschienen ist. Allerdings liegen hier Briefe von Kraus an seine Eltern vor, in denen er auf das Drama Bezug nimmt.14 Der äußere Anlass zur Abfassung des Dramas bestand in dem ungerechtfertigten Korruptionsprozess gegen seinen Vater. Diese Beschuldigung hing mit dem Mainzer politischen Regierungswechsel von Kurfürst Wenzel von Breidbach-Bürresheim zu Friedrich Carl Joseph von ErthalErthal, Friedrich Carl Joseph von (1719–1802) 1774 zusammen.15 Dem Vater wurde Bestechlichkeit im Amt vorgeworfen. In KrausKraus, Joseph Martin’ Drama bilden sich diese kleinstaatlichen Verhältnisse fast realgetreu ab. Die Haupt- und Titelfigur Tolon ist Minister an einem typischen Duodezfürstentum des 18. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit seiner Kleinstaaterei. Tolon wird von seinen politischen Gegnern eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat und das ihn kurzerhand seines Amtes enthebt und ihn zur Flucht zwingt. Auch in diesem Stück wird, wie in vielen anderen der Zeit, an der politischen Auffassung eines aufgeklärten Absolutismus festgehalten, obwohl sich durchaus auch reforminspirierte Hinweise finden lassen. Aber für Tolon ist ein Fürst von Natur aus gut, er wird nur schlecht beraten. Dies ist ein diskursives Erklärungsmuster, das sich in zahlreichen Publikationen der Zeit findet. Erst mit der Französischen RevolutionFranzösische Revolution wird sich dieses Muster ändern.
Man hat in der Forschung auf das Vorbild von Johann Anton LeisewitzLeisewitz, Johann Anton (1752–1806) mit seinem Drama Julius von TarentJulius von Tarent (1776 gedruckt, bereits 1774 entstanden) und seine Bedeutung für den TolonTolon hingewiesen.16 Allerdings kann dieser Text, der als wichtiges Drama der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang gilt, kaum herangezogen werden, denn Kraus wählt die Gegenwart seiner Zeit als Bezugshintergrund und verlegt die Handlung seines Schauspiels nicht in eine weit zurückliegende Vergangenheit wie Leisewitz, dessen Drama in der gleichnamigen Hauptstadt des italienischen Fürstentums Tarent am Ende des 15. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Auch spielt das für Leisewitz zentrale Thema des Bruderkonflikts und schließlich des Brudermords als ein zentrales Thema der Sturm-und-Drang-Literatur bei KrausKraus, Joseph Martin keine Rolle. Inwiefern ist dann der TolonTolon ein Drama des Sturm und DrangSturm und Drang? Der Text bietet zahlreiche strukturelle, sprachliche und diskursive Anhaltspunkte (eine eingehende Analyse fehlt allerdings bis heute).
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