»Oh«, machte sie. »Gehst du aus?«
Jette war auf die Frage vorbereitet, auch wenn sie einen so spitzen Ton nicht erwartet hatte. Sie gehe zu Gregor, sagte sie, der ihr etwas in Physik erklären wolle, das sie nicht verstanden habe. Es war eine halbe Lüge. Sie drehte sich weg, damit ihre Mutter ihr Gesicht nicht sah, falls es rot wurde. Zum Glück hatte sie sich wieder dem Geschirr zugewandt, das sie in den Schrank räumte. »Komm nicht so spät zurück.«
Gleichzeitig mit Elisabeth traf Jette bei Gregor ein. Neben dem Messingschild mit dem Namen »Jacoby« drückten sie auf die Klingel. Während sie warteten, nahm Jette wahr, dass ein süßlicher Duft von Elisabeth ausging, und als sie genauer roch, wurde ihr klar, dass ihre Freundin ein Parfum benutzt hatte. Elisabeth war weiter gegangen als sie selber, sie hatte sich mehr getraut, worüber Jette sich ärgerte. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter überhaupt Parfum besaß.
Gregor führte sie ins Wohnzimmer. Jette war schon öfter in diesem Raum gewesen, sie kannte die Holzvertäfelung, die beiden braunen Ledersofas, die in Form eines großen L aneinandergestellt waren, das Bücherregal und auch das Hitler-Porträt an der Wand, das deutlich größer war als das bei ihr zu Hause und in einem verschnörkelten Rahmen hing. Auf dem Esstisch lag eine Platte in Papierhülle. Es war die, von der Gregor am Morgen gesprochen hatte. Ein schwarzer Mann am Klavier war auf dem Foto. Count Basie. Jette erinnerte sich daran, wie Christian den Namen ausgesprochen hatte.
Elisabeth stand neben ihr und schaute das Foto ebenfalls an. Jette stieg wieder der süßliche Duft ihres Parfums in die Nase. Sie hatte sich ebenfalls umgezogen, und doch gab es einen Unterschied: Elisabeth war zusätzlich geschminkt. Auf den Augenlidern war schwarze Farbe, auf den Wangen rote, beides ganz leicht, aber so, dass man es sah. Mit ihren Wimpern hatte sie auch etwas gemacht, sie standen einzeln heraus und fielen auf.
Jette verkniff sich eine Bemerkung, die ihren Ärger nur schlecht kaschiert hätte. Sie kam sich blöd vor, als hätte Elisabeth sie bei einem Wettlauf überholt, bei dem sie selbst im Vorfeld siegesgewiss gewesen war.
»Er wird schon noch kommen«, meinte Gregor. Er meinte Christian.
Unschlüssig standen die drei Jugendlichen im Zimmer, betrachteten abwechselnd die Plattenhülle auf dem Tisch, die sie inzwischen kannten, und wussten nicht recht, was sie tun sollten. Endlich klingelte es, Gregor öffnete und kehrte mit Christian zurück, der sich ebenfalls umgezogen hatte, er trug nun wieder sein kariertes Jackett und ein weißes Oberhemd. Unter dem Arm hatte er ein paar Schallplatten, fünf vielleicht oder sechs, die er auf dem Tisch ablegte.
Gregor staunte. »Wo hast du die alle her?«
»Gerettet, als unser Haus bombardiert wurde.«
»Und wie?«
»Ich hatte sie immer bereitliegen. Wenn wir in den Keller mussten, habe ich sie mitgenommen.«
»Klasse«, rief Gregor.
Christian nahm die Hülle von Gregors Platte in die Hand, ließ die schwarze Scheibe herausrutschen und legte sie auf das Grammofon. Er brauchte nicht zu fragen, wie man es bediente, er wusste es. Count Basie war, wie auf dem Plattenfoto zu sehen, ein Pianist. Neben ihm gab es Bläser und Schlagzeuger, die Instrumente harmonierten, aber gleichzeitig waren sie viel freier als in einem Orchester. Die Musik hatte etwas Schnelles und beinahe Vibrierendes. Jette setzte sich auf eines der Sofas und schlug wie eine Erwachsene die Beine übereinander. Elisabeth hockte sich neben sie, während Gregor das andere Sofa nahm. Als das Lied zu Ende war, hob Christian den Arm des Grammofons, drehte die Platte um und stellte die andere Seite an. Die Instrumente waren noch deutlicher zu hören als auf der ersten Seite. Elisabeth bewegte vorsichtig die Fußspitze im Takt. Gregor hatte den Kopf auf ein Kissen gelegt und die Augen geschlossen. Die Musik schien ihn zu verzücken.
»Sind deine Eltern da?«, fragte Christian ihn.
»Nein.«
»Und kommen auch nicht gleich zurück?«
»Ich glaube nicht. Warum fragst du?«
»Pass auf – hör zu.«
Er legte eine von seinen Platten auf. Bläser spielten, und eine Frauenstimme sang auf Englisch. Aber es war nicht nur Englisch – dazwischen kam eine Zeile, die man verstehen konnte, zumindest ungefähr.
»Was bedeutet: Bei mir bistu shejn?«, fragte Jette.
»Bei mir bist du schön«, sagte Christian und schaute sie und Elisabeth abwechselnd an. »Ich finde dich schön.«
»Welche Sprache ist das? Doch nicht Deutsch«, meinte Elisabeth.
»Das ist Jiddisch.«
Nach diesem Wort herrschte Schweigen. Nun war nicht mehr zu leugnen, dass sie etwas Verbotenes taten, alle wussten es. Es war der Apfel, und sie bissen hinein. Erst die Musik eines schwarzen Mannes und jetzt auch noch Jiddisch. Jette hatte diese Sprache noch nie gehört, sie hatte nicht einmal gewusst, dass es sie gab. Aber hier war sie, zusammen mit Englisch. Bei mir bistu shejn. Offenbar war dieses Jiddisch dem Deutschen so ähnlich, dass man die Wörter und sogar ganze Sätze verstand, vielleicht nicht alle, aber viele. Und wen fand Christian nun shejn? Sie – oder Elisabeth?
»Wahnsinn«, meinte Gregor, als das Lied zu Ende war.
Christian nahm die Platte, ließ sie zurück in ihre Hülle gleiten und legte eine andere auf, wieder eine von denen, die er mitgebracht hatte. »Dann hör dieses. Es heißt In the Mood. Glenn Miller und sein Orchester.«
Sofort setzte das Vorwärtstreiben wieder ein, das Jette in der Wohnung von Erik so sehr aufgefallen war, diesmal auf ruhigere, irgendwie undramatische Art. Lässig, dachte sie. Christian setzte sich neben Gregor auf das zweite Sofa. Sein Kopf nickte im Takt, genauso wie an jenem Nachmittag in Altona. Diese Musik passte unglaublich gut zu ihm. Sie war klar und zugleich rätselhaft, voller unbekannter Melodien. Es war eine Tanzmusik, das spürte Jette in ihren Beinen, die sich bewegen wollten, und im ganzen Körper. Sie stellte sich vor, erwachsen zu sein, diese Musik hören zu dürfen und nach ihr zu tanzen, in einem Lokal mit vielen anderen ausgelassenen Leuten. Es war ein schönes Bild, das da in ihrem Kopf auftauchte.
Elisabeth stand auf, ging die drei Schritte auf das andere Sofa und Christian zu und streckte ihre Hand aus. »Zeig mir doch mal ein paar Tanzschritte dazu.«
Augenblicklich kehrte Jettes Ärger zurück. Sie war ein Hase, Elisabeth aber der Igel, der immer schon da war, wenn sie kam. Sie hoffte, Christian würde sie abweisen. Er wirkte überrascht und rückte seine Brille zurecht, aber dann nickte er, kam ebenfalls hoch, nahm ihre Hand und umfasste ihre Hüfte. »Das ist ganz einfach. Der Grundschritt geht so: zurück – vor – vor.«
Jette biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte vom Erwachsensein nur geträumt, Elisabeth dagegen wartete nicht auf eine ferne Zukunft, in der man alt genug war, um in die Tanzlokale zu gehen. Wie mit Schminke und Parfum war sie auch hier mutiger und geistesgegenwärtiger gewesen, und das Ergebnis war, dass sie dort mit Christian stand, eine Hand in seiner, die andere auf seiner Schulter, und die Schritte lernte, die er ihr beibrachte.
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