In den acht Jahren seit 1933 hatte sich viel verändert. Krell hatte zunehmend Zweifel und konnte nichts dagegen tun. Im Radio kamen immer nur Siegesmeldungen, Zeitungen las er schon lange nicht mehr, auch den Völkischen Beobachter nicht, den sie nur deshalb bezogen, weil es Nachfragen vom Blockwart oder von Nachbarn, die sich allzu gern einmischten, verhinderte. Sie nutzten das Papier, um Feuer im Herd anzuzünden. Unter der Hand hörte man von Grausamkeiten der SS in Polen, Griechenland und auf dem Balkan, und die vielen Juden, die abgeholt worden waren, wurden offenbar in riesigen Lagern festgehalten. Ihre Lebensbedingungen konnte man sich unschwer ausmalen. Trotzdem war Krell nicht bereit, den Gedanken zuzulassen, dass alles falsch gewesen war, was er vor wenigen Jahren noch richtig gefunden hatte. Und womöglich stimmte es ja auch nicht, vielleicht waren das nur böse Gerüchte, letztlich würde man es erst in der Zukunft entscheiden können. Inzwischen trieb er in einem Gewässer mit unterschiedlichen Strömungen und wusste nicht mehr, was er glauben sollte. In den Momenten, in denen er sich das eingestand, kam er sich verloren vor.
Wiebke war in dieser Hinsicht viel eindeutiger. Sie hielt es mit ihrem Vater, der schon kurz nach Kriegsbeginn, als er sich mit seinem Schwiegersohn nach einem sonntäglichen Kaffeetrinken eine Zigarre angezündet hatte, eine Weltkarte aus der Schublade gezogen und auf die Länder gezeigt hatte, mit denen Deutschland im Krieg war. Sein Fazit war klar – das konnte nicht gut gehen, die Nazis waren verrückt. Die Erinnerung war für Hannes Krell jederzeit abrufbar, als Vater Kraus die Nickelbrille abnahm, an seiner Zigarre zog und erklärte: »Wenn sich das Reich mit der Sowjetunion anlegt, oder es den Engländern gelingt, die USA in den Krieg zu ziehen, dann ist es mit dem Spuk bald vorbei.« Der alte Mann schloss die Augen. Der Rauch der Zigarre stieg zwischen seinen Fingern auf. »Bis dahin werden viele sterben.«
Wiebke teilte die Meinung ihres Vaters und fand, sie müssten sehen, dass sie selbst durchkämen, zumal sie die Sorge um ihre kränkliche Tochter Mareike hatten. Nicht auffallen, nicht anecken, genug zu essen im Haus haben, einfach überleben – das war ihre Devise. In Krell sträubte sich alles gegen diese Haltung. Ohne echte Überzeugungen war es doch kein Leben, und er war Deutscher, da musste man zu seinem Land stehen.
Als der Schiedsrichter zur Pause pfiff, hatte er kaum etwas vom Spiel mitbekommen. Immerhin wusste er, dass Kiel mit zwei zu eins führte, aber auch nur, weil es auf der Anzeigetafel stand.
»Ich verstehe noch nicht«, sagt Euler, »wie ihr unterscheiden sollt, was ein wichtiger Fall ist und was nicht. Vielleicht kommt das bald bei uns auch, wer weiß? Du wirst also zu einem Mord gerufen – und dann? Nimmst du den Tatort auf? Rufst du die Technik? Sichert ihr Spuren?«
»Das ist unsere Aufgabe.«
»Bis der Herr Kriminalrat sagt – unwichtig, mach was anderes? Oder wie?«
Krell zog die Schultern hoch. Für ihn war die entscheidende Frage, ob es sich bei Tessows Satz um eine Dienstanweisung gehandelt hatte oder ob es eher um das Ermessen der Kommissare ging, um ihren Arbeitsaufwand im Angesicht der reduzierten Personalstärke. Derzeit hatten Schubert und er keinen anderen Fall.
»Ich werde ganz normal weitermachen.«
»Das wird wohl am besten sein«, erwiderte Euler. »Man sollte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, auch nicht, wenn es vom Kriminalrat kommt.«
Sie schauten der zweiten Halbzeit zu. Das Spiel endete zwei zu zwei, die Zuschauer waren zufrieden. Krell ging mit Euler am Millerntor in eine Kneipe voller Sankt Pauli-Anhänger, wo sie kaum einen Tisch fanden. Sie tranken jeder zwei Biere, dann fuhr er nach Hause, in sein »Dreimädelheim«, wie Euler zu sagen pflegte. Wiebke hatte Abendessen für ihn beiseitegestellt. Mareike, die eine böse Erkältung hatte, schlief bereits. Als er nach ihr sah, lag sie zusammengerollt in ihrem Bett. Er legte seine Finger auf ihre Stirn, Fieber hatte sie nicht mehr. Jette las in ihrem Zimmer. Er begrüßte sie, dann ging er zu seiner Frau zurück. Er erzählte vom Spiel und von Euler, sparte aber sein Rätselraten über Tessows Ausspruch aus. Das fiel nicht weiter auf, denn er redete zu Hause fast nie über seine Fälle. Es galt eine gewisse Pflicht zur Verschwiegenheit, und er wollte auch nicht, dass sich Wiebke aufregte. Er fragte, wie es den Mädchen ging. Ob sein Eindruck stimmte, dass Mareike das Schlimmste hinter sich hatte.
Irgendetwas lag in der Luft. Während Jette auf den Beginn des Unterrichts wartete, hatten die uniformierten Schüler mitten im Klassenraum einen Kreis um Björn gebildet, der wie ein Hauptmann auf seine Kompanie einredete, nicht besonders laut, aber eindringlich. Seine Hände waren zwei Fäuste, die auf und nieder fuhren, während er sprach. Das Gesicht war rot, und der Eindruck wurde durch den Kontrast zu seinem flachsblonden Haar noch verstärkt. Die Wangenknochen stachen hervor. Er wirkte wie jemand, der immer bereit war für eine Schlägerei.
Jette beobachtete die Gruppe von ihrer Bank aus, genauso wie die Klassenkameraden das taten. Wenn Björn etwas ausheckte, wurde es gefährlich, zwar nicht für sie persönlich, denn Mädchen behelligten sie nicht, das entsprach, wie sie meinten, nicht deutscher Art. Aber sie hatten jemanden im Visier.
Christians Platz war leer, was wiederum Gregor nervös zu machen schien. Er achtete nicht auf die HJ-ler, sein Blick pendelte zwischen der Tür und Christians Platz. Schließlich stand er auf, ging zu Karl hinüber und zeigte auf den Stuhl neben ihm, der noch an die Tischplatte gerückt war.
»Kommt er heute nicht?«
Karl zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen?«
Die HJ-ler schlugen die Hacken zusammen, als Björn seine Ansprache beendete. Sie hatten irgendetwas beschlossen, und das verhieß nichts Gutes. Wie sie da standen, wirkten sie wie ein Trupp halbwüchsiger Soldaten, die auf einen Angriff warteten. Jette glaubte zu wissen, wen sie sich zum Ziel auserkoren hatten. Christian, den Swingboy, den »Tanzbubi«, wie Doktor Petersen einmal zur Freude der Linientreuen gesagt hatte. Seitdem hatten sie ihren Spitznamen für ihn.
Und Gregor, weshalb war der so unruhig? Jette hielt es für möglich, dass er von ihrem Ausflug nach Altona erfahren hatte. Weil sie meistens zusammen nach Hause gingen, schien Gregor daraus eine Art Anspruch auf sie abzuleiten. Vielleicht war Jette in seiner Vorstellung bereits so was wie seine Verlobte, auch wenn sie über solche Dinge noch nie auch nur ein Wort verloren hatten. Aber warum sprach er sie dann nicht auf den Nachmittag in Altona an, sondern wartete auf Christian? Oder hob er sich die Vorwürfe gegen sie für den nächsten gemeinsamen Heimweg auf? Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, sie überlegte bereits, wie sie ihm nach der Schule entkommen konnte, zumal sie auch eine Bemerkung über ihre Kleidung fürchtete. Sie trug nicht ihre üblichen groben Wollstrümpfe zum Rock, sondern die feinen aus Seide, ihre Schuhe waren blank geputzt und die Haare gewaschen. »Junge Dame«, hatte ihre Mutter beim Frühstück gesagt.
In der Klasse hing eine dumpfe, abgestandene Wärme, obwohl es draußen merklich kühler geworden war. Jette öffnete eines der Fenster. Die uniformierten Schüler standen immer noch beieinander, nun aber in jener Haltung, die man »rührt euch« nannte. Jette war erleichtert, als Doktor Petersen eintrat, sein übliches »Heil Hitler« auf den Lippen. Die Schüler brüllten ihren Gruß und setzten sich, Björn und seine Freunde genauso wie Gregor. Doktor Petersen schloss die Tür, die im nächsten Augenblick wieder geöffnet wurde.
Christian. Zu spät.
Grußlos und ohne irgendjemanden anzusehen, ging er zu seinem Platz. Er hatte es auch diesmal nicht besonders eilig, sondern schritt seelenruhig durch den Klassenraum, sodass alle Welt sah, was er anhatte. Er trug nicht sein Jackett, sondern einen hellen Übergangsmantel, der leicht schäbig wirkte, und hielt dazu einen Regenschirm in der Hand, was nicht weniger britisch aussah als die Karos auf dem Sakko. In aller Ruhe lehnte er seinen Schirm gegen die Wand, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Doktor Petersen stand an seinem Pult, drehte seine Brille durch die Finger und fixierte Christian. Eine Ermahnung stand an, womöglich ein Wutanfall, vielleicht eine Strafe. Björn starrte Christian an, seine Freunde genauso.
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