Claudius Crönert
Letzter Tanz auf Sankt Pauli
Roman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild - Ewald Hoinkis
und ullstein bild - mauritius
ISBN 978-3-8392-6930-5
Der Reisewecker auf dem Nachttisch zeigte kurz nach 1 Uhr, als im Wohnzimmer das Telefon klingelte. Hannes Krell versuchte, das Geräusch in seinen Traum einzubauen, doch der schrille Ton passte nicht, deshalb öffnete er die Augen und stand schnell auf. Er wollte vermeiden, dass die ganze Familie wach wurde. Mit einer Hand am Geländer tastete er sich im stockdunklen Haus die Treppe hinab, einerseits eilig, damit der Anrufer nicht auflegte, andererseits vorsichtig, denn die Stufenbretter knarzten laut. Das Telefon hatte einen durchdringenden Ton, der noch lauter war, weil die Wohnzimmertür offen stand.
Krell riss den Hörer von der Gabel. Die Dienststelle, wie vermutet. Ein Toter auf Sankt Pauli. Neben dem Apparat lag ein Block, dazu ein Bleistift. Da kein Licht brannte, konnte Krell nichts sehen. Trotzdem kritzelte er die Adresse, die der Kollege ihm durchgab, auf das raue Papier.
»Ist gut«, sagte er, »rufen Sie bitte Kriminalassistent Schubert an. Ich mache mich auf den Weg.«
Das Badezimmer lag oben, er musste die knarrende Treppe also wieder hinauf. Unrasiert aus dem Haus zu gehen, war eine lächerliche Vorstellung, und außerdem hingen Hemd und Anzug im Schlafzimmer. Im Bad hatte er das Fenster mit schwarzer Pappe verklebt, so konnte er die Lampe über dem Spiegel anmachen, zumal es nur eine Funzel mit mattem Schein war. Eine stärkere Birne durften sie nicht benutzen, das hatten sie vom Garten aus überprüft, nur dieses schwache Licht war nicht zu sehen. Er schlug die Rasierseife schaumig und pinselte sich ein. Das Messer war nicht richtig scharf, es musste geschliffen werden. Er schob diese Aufgabe bereits seit mehreren Tagen vor sich her, jetzt war er froh über seine Nachlässigkeit, denn wenn man schläfrig war und gleichzeitig in Eile, schnitt man sich leichter.
Er gähnte. Ihm ging ein Gedanke durch den Kopf, den er festhielt: Er konnte selbst entscheiden, wie er sich innerlich zu diesem neuen Fall stellte. Es gab viele Gründe, sich zu ärgern und zu fluchen – nur zwei Stunden Schlaf, und mehr würden es an diesem Tag auch nicht werden, dann das verpasste Frühstück mit der Familie, und möglicherweise würde er auch noch einer Hinterbliebenen die Todesnachricht überbringen müssen. Genauso gut aber konnte er sich frohgemut ans Werk machen. Er war Kriminalbeamter, dies war seine Arbeit, er machte sie gerne, es verschaffte ihm geradezu Freude, mit immer neuen Erkenntnissen und Details Licht ins Dunkel zu bringen. Nicht zu verachten war auch, dass ihm seine Stellung einige entscheidende Vorteile brachte, ein sicheres Einkommen und vor allem, dass er nicht in den Krieg musste. Es gab derzeit wenige Männer in Deutschland, die so gut dastanden wie er.
Dies war die richtige Einstellung. Er nickte seinem Spiegelbild zu, wusch sich den Rasierschaum vom Gesicht, trocknete es ab und schaltete die Lampe aus.
Leise drückte er die Türklinke zum Schlafzimmer herunter.
Wiebke war wach. »Musst du los?«
»Ja.«
»Soll ich dir eine Tasse Kaffee kochen?«
Sie hatten sowieso nur Ersatzkaffee im Haus, ein Zichoriengebräu, das einen nicht wach machte. »Nicht nötig. Schlaf weiter.«
»Bestimmt?«
»Ganz bestimmt.«
Mit Hut und Mantel trat er hinaus in die Nacht. Der Mond stand hinter einer Schleierwolke und schien milchig. Er gab das einzige Licht weit und breit. Krells Augen passten sich schnell an, sodass er zumindest Schemen ausmachen konnte. Die Verdunklungspflicht galt seit Kriegsbeginn, seit anderthalb Jahren, Zeit genug, sich daran zu gewöhnen. Die Bewohner ihrer Siedlung hielten sich streng daran, nicht so sehr, weil der Blockwart sie kontrollierte und strenge Strafen aussprach, sondern weil niemand wollte, dass sein Haus aus der Luft gesehen wurde. Die Flugzeuge der Tommys kamen vornehmlich nachts, die Piloten setzten darauf, zu dieser Zeit die deutsche Flak zu unterlaufen.
Krells Opel stand vor der Tür. Nach Vorschrift hatte er die Lampen zu schmalen Schlitzen verklebt. Bei der nächtlichen Fahrt würde ihr Strahl ihm kaum nützen, aber er fuhr den Weg jeden Tag und würde ihn finden, auch ohne viel zu sehen. In den Straßen war es stockfinster, in keinem der Häuser brannte auch nur das kleinste Lämpchen. Der Mond war inzwischen von einer dichteren Wolke verdeckt.
Krell bog auf die Landstraße. Von nun an ging es praktisch nur noch geradeaus. Erst am Backsteinbau des Altonaer Bahnhofs hielt er sich südwärts Richtung Elbe. Vor ihm tauchte der Schornstein der Sankt Pauli-Brauerei auf. Ein Peterwagen, mit zwei Rädern auf einem Bürgersteig abgestellt, zeigte ihm, dass er angekommen war. Auch an diesem Auto waren die Lampen ausgeschaltet. Die Regeln galten für die Polizei genauso wie für alle anderen. Nachts durfte man nicht einmal das Blaulicht anstellen, selbst in Notfällen nicht.
Krell parkte hinter dem Peterwagen und schritt durch eine Einfahrt, die aus zwei Backsteinpfeilern bestand. Vor ihm lag ein düsterer Hof mit einem Boden aus gestampftem Lehm, trocken und staubig, denn es hatte, untypisch für Hamburg, lange nicht geregnet. Das war ein Vorteil, falls es Spuren gab. Außerdem schonte es seine Schuhe; nichts klumpte und verdreckte mehr als aufgeweichter Lehm. Am Ende des Hofes machte er die Konturen eines Schuppens aus und sah beim Näherkommen, dass er wie ein Kaninchenstall aus ungehobelten Brettern bestand, die auf einem knöchelhohen Fundament aus Steinen aufgerichtet waren. Das Dach war ebenfalls aus Holz, mit ein wenig Teerpappe darüber. Die Schuppentür stand offen, die beiden Schupos hatten sich wie zwei Torwächter davor postiert. Sie rauchten, was Krell nicht passte, weil die Spurensicherung ihre Kippen dem Täter zuordnen würde. Er ging weiter. Der gesamte Platz hatte etwas Gespenstisches, wie ein Friedhof bei Nacht. Kein guter Ort zum Sterben.
Er nickte den beiden Schupos zu und sagte »Moin.«
Sie grüßten zurück.
»Wer hat ihn gefunden?«
Die zwei sahen aus wie Brüder, beide groß gewachsen, hager und kahl. »Wir«, sagte der ältere und ranghöhere der beiden. »Es gab einen Anruf auf der Wache.« Er sprach breites Hamburgisch.
»Von wem?«
»Anonym. Eine Frauenstimme. Das hat der Kollege, der das Gespräch entgegengenommen hat, jedenfalls gesagt. Na, und dann sind wir hergefahren und haben ihn gefunden. Der hatte wohl keine Lust mehr. Wir haben Ihre Dienststelle angerufen.«
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