Doch Doktor Petersen ignorierte ihn. »Wenn dann endlich alle so weit sind, fahren wir fort. Wo waren wir stehengeblieben?«
Mehrere Arme schnellten in die Höhe. Doktor Petersen rief Elisabeth auf.
»Die Völkerschlacht bei Leipzig.«
Weder lobte noch korrigierte Petersen sie. Die Antwort reichte ihm nicht. Er wartete ein paar Augenblicke, ob von ihr noch ein Zusatz kam. Als das nicht geschah, sagte er selber, was er hatte hören wollen: »Die Völkerschlacht bei Leipzig, ein historischer Sieg Preußens und Deutschlands und selbstverständlich des Ariertums. Welchen Feldherren haben wir sie zu verdanken?«
Die Namen Yorck und Blücher hatte er so oft genannt, dass die Schüler wie im Chor antworteten. Petersen nickte und erwähnte auch die anderen beteiligten Armeen, die Österreicher, Russen und Schweden. Ohne Preußen aber, erklärte er, wäre Napoleon nicht besiegt worden.
Jette hörte nur mit einem Ohr zu. Etwas ging im Klassenraum vor sich, das war deutlich zu spüren, und es hatte mit Christian zu tun. Gregor blickte immer wieder zu ihm, genauso wie Björn von seiner Ecke aus. Nur Christian schien davon nichts mitzubekommen. Er lehnte sich gegen die Stuhllehne, strich sein langes Haar zur Seite, säuberte die Brillengläser, schrieb auch hin und wieder etwas in sein Heft. Seine Bewegungen hatten etwas Provozierendes in ihrer Langsamkeit. Doktor Petersen schenkte ihm keine Beachtung. Wenn er sich meldete, was zweimal vorkam, ignorierte er ihn.
Kaum hatte es geläutet, machte sich Gregor auf den Weg zu Christian. »Ich will dich etwas fragen.« Er zeigte mit dem Daumen Richtung Tür. »Draußen.«
Christian zog die Schulter hoch, als interessiere ihn die Aufforderung nicht weiter. »Von mir aus.«
Nebeneinander gingen sie hinaus, was ein ungewohntes Bild war, weil Christian seine Pausen sonst immer alleine verbrachte. Auch Jette hatte es nicht geschafft, diese seltsame Mauer um ihn zu durchbrechen, über ihre gemeinsame Bahnfahrt und den Nachmittag in Altona hatten sie seitdem kein einziges Wort gesprochen. Sie hatte sich überhaupt nicht wieder mit ihm unterhalten, was sicherlich nicht nur an ihm lag. Wenn sie an ihren Ausflug zurückdachte, stellten sich Freude und Scham gleichzeitig ein, und die Scham kam deshalb, weil sie sich so leicht zu dieser Fahrt hatte überreden lassen, und sie war ein Teil der unsichtbaren Grenze zwischen ihnen. So oder so, sie konnte nicht mit Christian an das gemeinsame Erlebnis anschließen, und das lag nicht nur daran, dass es rund um sie so viele Augen und Ohren gab.
Sie ging den beiden Jungs nach, die auf der Rückseite von Christians Eiche zum Stehen kamen.
»Wir haben eine Jazzplatte zu Hause«, sagte Gregor ohne weitere Einleitung. »Ich habe sie gestern angestellt. Von Count Basie.«
Er sprach den Namen deutsch aus, er klang wie »Kont«. Christian korrigierte ihn und betonte den Namen englisch, »Kaunt«, nicht auftrumpfend, sondern in unaufgeregter Weise. Gregor verbesserte sich schnell. Fast hätte man denken können, er habe sich nur versprochen.
»Ich wollte dich fragen«, sagte er, »ob du Lust hast, sie zu hören.«
»Wo?«
»Bei mir zu Hause.«
Anstelle einer Antwort warf Christian Jette einen Blick zu, und sie verstand, was er wissen wollte. In der Bahn hatte er sie gefragt, ob man ihm trauen könne. Jetzt erbat er eine Bestätigung, vielleicht nur ein leises Kopfnicken. Sie kam nicht dazu, denn plötzlich stand Björn bei ihnen, umringt von seinen Freunden. Wie ein erwachsener Mann presste er seine beiden Daumen in den Koppelgürtel, eine Unteroffiziersgeste, in der eine Drohung lag.
»He, Tanzbubi, ich will von dir wissen, in welcher HJ-Gruppe du bist. Jetzt sofort.«
Christian sah ihn durch seine Brillengläser an, er wirkte erstaunt und machte den Eindruck, als müsse er die Aufforderung des anderen Jungen erst einmal verarbeiten. Seine Reaktion war, wie oft in der Klasse, unaufgeregt, eher nachdenklich. Björn war rot im Gesicht, sein Zorn wuchs mit jedem Moment, den Christian ihn warten ließ. Gewalt lag in der Luft. Fünf uniformierte Schüler standen Christian gegenüber, alle trainiert und bereit, ihre Kräfte einzusetzen. Ob sich Gregor auf Christians Seite schlagen würde, war nicht gewiss, erst recht nicht, ob andere Jungen dazukommen würden. Die meisten waren in einem anderen Abschnitt des Hofes.
Christian verzog den Mund. Nun lag die Andeutung eines Lächelns darauf. »Ich möchte auch vieles wissen und erfahre es nicht.«
Björn rückte näher an ihn heran. »Was zum Beispiel?«, zischte er.
»Zum Beispiel, was dir das Recht gibt, mir solche Fragen zu stellen.«
»Deutschland!«, rief Björn. »Also: welche Gruppe?«
Christian trat einen halben Schritt zurück, er versuchte, den Kreis des rotköpfigen Björn zu verlassen und in den Schutz der Eiche zu gelangen. Dabei pustete er Luft aus, als habe der andere Mundgeruch. Als er antwortete, tat er es in einem Ton, als mache er sich über Björn lustig. »Na, wenn’s um Deutschland geht – ich bin suspendiert.«
»Weshalb?«
Christian schüttelte den Kopf. »Darüber muss ich keine Auskunft geben.«
Björn rückte wieder an ihn heran. Seine Freunde folgten ihm und bildeten einen Halbkreis um ihn. »Oh doch. Das musst du.«
»Nein. Das weiß ich zufällig genau.«
Beide standen so nahe beieinander, dass sie auf den jeweils anderen hätten einschlagen können. Keiner von ihnen rührte sich, Christian wich nicht weiter zurück, Björn griff nicht an. Er hatte seine Daumen immer noch in dem breiten Gürtel eingehakt. Inzwischen hatten sich andere Schüler eingefunden, Mädchen genauso wie Jungen, die einen zweiten Kreis um die Streitenden bildeten. Es war nicht vorherzusagen, wer von ihnen im Falle einer Schlägerei wem helfen würde. Man verdarb es sich nach Möglichkeit nicht mit den HJ-lern, denn die vergaßen nie und konnten einen überfallen, besonders wenn man allein war. Zudem schützte sie ihre Uniform. Wenn ein Lehrer eingriff, bekamen sie nie die Schuld.
»Wenn er eine Krankheit hat«, mischte sich Gregor ein, »muss er einem Kameraden darüber nicht Auskunft geben, sondern nur einem Vorgesetzten.«
Es war nicht klar, ob er eine offizielle HJ-Vorschrift zitiert oder sich das gerade ausgedacht hatte.
»Das ist einfach so«, setzte er hinzu.
Björn schaute von Gregor zu Christian und wieder zu Gregor. Sein Mund stand halb offen, er zog die Daumen von seinem Gürtel und ballte die Fäuste. Nicht nur die Umstehenden, auch seine Freunde warteten auf seine Entscheidung. Kämpfen oder nicht kämpfen. Nichts bewegte sich. Es war ein Moment, in dem die Zeit eingefroren schien.
Schließlich sagte Björn: »Ich werde mich erkundigen. Diese Sache ist noch nicht zu Ende.« Mit einer energischen Kopfbewegung zur Seite zog er ab. Seine Freunde folgten augenblicklich. Auch der Kreis der anderen Schüler löste sich auf, wenn auch deutlich langsamer. Hier und da wurden Bemerkungen gemacht oder gelacht.
Jette blieb zurück, Elisabeth mit ihr. Christians Entscheidung stand noch aus, seine Antwort auf Gregors Frage. Gregor wartete sichtlich darauf, und als sich Christian nicht äußerte, sagte er: »Also, was ist?«
»Count Basie. Verlockend. Ja, warum nicht? Wo wohnst du?«
Gregor nannte ihm seine Adresse.
»Und wann?«
»Heute Abend?«
»Einverstanden. Vielleicht bringe ich auch zwei oder drei Platten mit.«
»Gute Idee«, sagte Gregor.
»Ich möchte auch kommen«, rief Elisabeth. »Darf ich?«
»Dann bin ich auch dabei«, sagte Jette.
Noch mehr als am Morgen beschäftigte Jette die Kleiderfrage. Es gab gute Gründe dafür, sich umzuziehen, und stichhaltige dagegen. Der graue Rock, den sie anhatte, war bequem, aber man sah ihm an, dass er abgetragen war, die Falten hielten nicht mehr richtig, die Farbe war ausgeblichen, der Bund ausgeleiert und deshalb zu weit. Sie besaß einen schickeren, er lag in ihrem Schrank. Bliebe sie in dem alten, würde sie sich darin wohlfühlen, käme sich aber ähnlich provinziell vor wie neulich bei Christians Freund in Altona. Wenn sie den neuen anzöge, würden es Elisabeth und Gregor und vielleicht auch Christian merken und sich ihren Teil denken, nämlich, dass sie auffallen wollte. Sie konnte sich nicht entscheiden. Erst als es schon dämmerte und sie sich auf den Weg machen musste, ging es schnell. Sie wusch sich gründlich mit dem Schwamm, kämmte sich, ließ die Seidenstrümpfe an, nahm den guten Rock und eine frische Bluse dazu. Ihr Vater war noch bei der Arbeit, ihre Mutter räumte die Küche auf.
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