Obwohl das Gebäude im Stil den alten Fischer- und Walfängerhäusern von Sylt nachempfunden und traditionell mit Reet eingedeckt war, konnte Jan bereits von der Straße aus leicht erkennen, dass es sich um ein Luxusdomizil handelte. Die Wohnfläche auf zwei Geschossen musste über 300 Quadratmeter betragen. Im Spitzgiebel der Eingangsfront gab es auf Höhe des Dachbodens ein Bullauge, alle anderen Fenster hatten weiße Sprossen. Die große grüne Haustür war zweiflügelig. Ein Weg aus Granitpflaster führte direkt darauf zu. Umschlossen wurde das Grundstück von einer niedrigen weiß verputzten Mauer und einer nur gelegentlich von Büschen unterbrochenen Rasenfläche.
Ein paniertes Filetstückchen.
Die Villa stand hier ganz allein. Weit und breit kein anderes Haus.
Jan hielt die Videoproduzenten für junge Männer. Vielleicht waren sie wie Anna-Lena auch Studenten. Der Schachspieler hatte eine entsprechende Andeutung gemacht, ohne es weiter auszuführen. Auf Nachfrage hatte er ausweichend geantwortet und dann das Thema gewechselt.
Jan hielt auch den Schachspieler für nicht besonders alt.
Aber wie konnten sich Studenten eine solche Unterkunft leisten? Selbst wenn es im Winter Sonderpreise gab? Die Miete konnte auch jetzt kein Pappenstiel sein.
Jan legte kurz die Stirn in Falten, während er den kurzen Weg zur beeindruckenden Eingangstür ging. Kein Name an der Klingel. Vielleicht hatte die Taxifahrerin etwas verwechselt. Anna-Lenas Gesicht zum Beispiel. Oder sie hatte einfach nur Quatsch erzählt.
Trotzdem musste Jan vorsichtig sein. Wenn die Leute, mit denen Anna-Lena angereist war, von ihrem Tod wussten, konnten sie gefährlich sein. Genau betrachtet, konnten sie sogar etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben. Alles sah nach einem Unfall aus. Anna-Lena war vom Kliff gestürzt. Aber ihr Aufzug verriet, dass sie den halsbrecherischen Stunt für eine weitere Videoproduktion hingelegt hatte.
Besonders gerne würden sich die Macher des Films von einem neugierigen Journalisten keine Fragen stellen lassen. Diese zum Beispiel: Warum haben Sie das Mädchen einfach am Strand liegen gelassen?
Jan klingelte.
Niemand reagierte.
Bevor er nach Kampen gefahren war, hatte Jan einen Augenblick überlegt, Eggestein anzurufen und ihm von der Adresse zu erzählen. Wenn Anna-Lena in diesem Haus gewohnt hatte, würde das den Mann von der Kriminalpolizei natürlich interessieren. Doch dann hatte Jan sich entschieden, erst einmal selbst hinzufahren.
Jan trat einen Schritt zurück und sah zu den Fenstern. Nichts rührte sich, keine Gardine wurde bewegt.
Das Haus war verlassen.
Irgendwie war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Wenn die Videoproduzenten hier mit Anna-Lena gewohnt hatten, dann hatten sie sich vermutlich nach dem tödlichen Absturz des Mädchens so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Wenn sie denn hier gewohnt hatten.
Um ganz sicher zu gehen, ging Jan ums Haus. Der schmale Weg war eine Fortführung des Granitpflasters, das von der Straße zum Haus führte. An einem Fenster legte er ungeniert die Stirn gegen das Glas und schirmte mit den Händen das seitlich einfallende Licht ab.
Was er sah, war eine sehr teuer eingerichtete Küche. Er sah aber auch, dass auf einem Tisch und der Arbeitsfläche neben der Spüle benutztes Geschirr stand. Ein angebrochenes Paket Toast und leere Pizzaschachteln lagen herum.
Vielleicht war die Adresse doch nicht so verkehrt. Jedenfalls musste hier bis vor Kurzem jemand gewohnt haben. Und dieser jemand hatte vor seiner Abreise nicht aufgeräumt. Wenn er denn abgereist war. Schon wieder ein Wenn.
Dieser Gedanke beschäftigte Jan noch, dann sprang er reflexartig vom Fenster zurück. Direkt hinter der Scheibe war ein Gesicht aufgetaucht. Wut stand darin geschrieben. Die Augen waren weit aufgerissen, die Stirn gekraust und die Lippen fest aufeinander gepresst.
Wild gestikulierte eine Frau hinter dem Fenster und beschimpfte ihn, ohne dass Jan die Worte verstehen konnte. Das Isolierglas dämpfte die Geräusche zu sehr. Doch es war klar, dass die Frau ernsthaft böse auf ihn war. Jan war für sie nicht mehr als ein Spanner, der sich die Nase am Fenster platt drückte.
Es war aber nicht der sich über ihn ergießende Zorn, der Jan so erschreckt hatte und sein Herz rasen ließ. Es war das Gesicht selbst. Das kantige Kinn und die hohen Wangenknochen, an denen ein Luftballon bei der leichtesten Berührung zerplatzt wäre. Auch wenn es unmöglich schien: Hinter dem Fenster drohte ihm Anna-Lena Thumsen mit geballter Faust.
Auch als die Haustür aufgerissen wurde und die junge Frau zu ihm in den Vorgarten stürmte, hatte Jan die Überraschung noch nicht überwunden.
Freundinnen, dachte er. Oder sogar Schwestern. Ich darf ihr nichts sagen. Nicht einfach so. Erst mal sehen, was sie weiß.
»Was soll das? Glotzen Sie immer bei fremden Leuten durchs Fenster?«
»Ich habe vorher geklingelt.«
»Na und?«
»Ich weiß, das war trotzdem nicht in Ordnung. Aber ich habe jemanden gesucht. Und da wollte ich sehen, ob das hier das richtige Haus ist.«
»Und wer soll das sein?«
Vorsicht, Jan. Sag nicht zu viel …
»Zwei Videoproduzenten aus Hamburg. Und eine Frau.«
Das Gesagte traf ins Schwarze. Die junge Frau sah ihn abschätzend an. »Warum suchen Sie diese Leute?«
»Ich bin Journalist. Die Videos dieser Männer und der Frau sind ein echtes Phänomen. Wahnsinnige Klickzahlen. Ich will einen Artikel darüber schreiben.«
»Sie sind von der Presse?«
»Ganz genau«, bestätigte Jan. »Ich will über die Produktion schreiben. Über die Menschen, die sich so was ausdenken. Ob es weitere Projekte gibt. Und so …«
Der Blick der Frau lag auf Jans Gesicht, dann wanderte er zur Seite. Hinter seinem Rücken schwoll das Dröhnen eines starken Motors an. Als Jan sich umdrehte, sah er einen VW Amarok über den Asphalt rollen. Obwohl der Pick-up weiß lackiert war, ging allein von seinem wuchtigen Äußeren eine Art Bedrohung aus. Dazu grollte ein Sechszylinder-Turbomotor dunkel und böse.
Das Rollband lief mit stoischer Gelassenheit an den Fluggästen vorüber. Charlotte Sander stand mit einem in die Ferne gerichteten Blick daneben, strich sich mit Mittel- und Zeigefinger mehrfach über die Lippen und bemerkte zunächst gar nicht, wie ihr Koffer an ihr vorüberglitt. Dann schien sie wie aus einem Traum zu erwachen, ging an einigen anderen Passagieren vorbei, die sie vom Sehen aus dem Flugzeug kannte, und zog das Gepäckstück vom Transportband. Zwei Monate war sie nicht in Hamburg gewesen.
Ein Winter auf Mallorca war der Titel eines Essaybandes von George Sand ebenso wie die zur selben Zeit komponierten 24 Préludes von Frédéric Chopin. Erst im Februar 1839 war das Liebespaar in seine Heimat zurückgekehrt. Charlotte hatte die Spuren der beiden Künstler verfolgt, hatte 100e Fotos im Gepäck, die im Auftrag eines Buchverlags entstanden waren. Ihre eigene Reise war nun auch zu Ende. Oder etwa nicht?
Unruhe nagte an Charlotte. Für den Winter in Hamburg war sie zu dünn angezogen, doch auch das bemerkte sie kaum, während ihre hochhackigen Stiefel durch die Flughafenhalle zum Ausgang klackerten.
Charlotte war ein auffälliger Typ. Sie war groß, sie kleidete sich grell, ihr Kopf bestand fast nur aus Locken, und ihre Augen leuchteten in einem derart intensiven Grün, dass sie das Gesicht noch mehr als der Leberfleck über dem linken Mundwinkel dominierten. In aufrechter, geradezu stolzer Haltung zog Charlotte ihren Trolley hinter sich her. Da niemand wusste, dass sie an diesem Tag nach Hause kam, war niemand da, um sie zu begrüßen. Auch Jan nicht.
Jan.
Dachte Charlotte an seinen Namen, dann dachte sie automatisch auch an sein Gesicht. Und an seine Hände.
Sie musste mit Jan sprechen. Am besten sofort.
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