Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ in Iran frühestens seit dem frühen 3. nachchristlichen Jahrhundert nachgewiesen werden können, mithin zur Zeit der Sasaniden, unter denen auch die bis dahin nur mündlich tradierten Lehren des ‚Avesta‘ kodifiziert wurden. Obschon die Seelenheilstiftungen deutlich von der religiösen und ethischen Reform geprägt sind, die ‚Zarathustra‘ zugeschrieben werden, lassen sie sich chronologisch nicht in die Nachbarschaft der Achsenzeit zurückverfolgen, gleichgültig, ob man diese ins 2. oder 1. vorchristliche Jahrtausend datiert.
Genese und Varianten christlicher Stiftungen
In der Forschung ist wiederholt erörtert worden, ob das sasanidische das islamische Stiftungswesen beeinflusst hat,192 aber nur wenig hat man bisher darüber nachgedacht, ob die zoroastrischen Stiftungen für die Seele auch Vorbilder der christlichen ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ oder für die Stiftungen im Judentum gewesen sein könnten.193 Dabei hat es kulturelle Kontakte zwischen Persern und Juden beziehungsweise Griechen mindestens seit den Zeiten Kyros’ des Großen und besonders der Sasaniden gegeben. Eher auszuschließen ist lediglich das umgekehrte Verhältnis von christlichen Vorbildern für die sasanidische Praxis, da die Kirche kaum Stiftungen entgegennehmen konnte, bevor Kaiser Konstantin der Große die christlichen Gemeinden anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt (311/313) und ihnen Vermögens- und Erbfähigkeit zugebilligt hatte (321).194
Während die Analogien zwischen zoroastrischen und christlichen ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ bisher nicht erörtert wurden, hat Jan Assmann, ohne auf Stiftungen selbst einzugehen, eine besondere Verwandtschaft zwischen der altägyptischen Religion und der Lehre des Christentums konstatiert:195 Beide verbinden eine Sehnsucht nach Erlösung vom Joch der Vergänglichkeit und die Idee vom Jenseits als Ort der Gerechtigkeit. Unsterblichkeit des Individuums stehe wie in Ägypten im Zentrum der christlichen Botschaft. Die rituelle Vergegenwärtigung von Tod und Auferstehung Jesu in den Sakramenten hat die Ägypter schon in der Spätantike besonders ansprechen müssen. Mit seinem Sterben am Kreuz und Abstieg in das Reich des Todes habe Christus die Schrecken der Todeswelt überwunden und das Tor zum Elysium geöffnet. Jedem Getauften sei Anteil an dieser Unsterblichkeit verheißen. Am Ende der Zeiten würden die Toten auferstehen und gerichtet werden. Den Guten sei die ewige Seligkeit zugesagt, die Bösen dagegen erwarteten ewige Höllenstrafen. In der späteren Geschichte des christlichen Abendlandes sei die Idee des Fegefeuers mit der individualisierten Gerichtsvorstellung hinzugekommen. Jeder werde gleich nach dem Tod gerichtet, um gegebenenfalls die Zeit bis zur Auferstehung für die Abbüßung der Sünden im Fegefeuer nutzen zu können. Wer aber freigesprochen werde, ginge gleich nach dem Tod in die ewige Seligkeit des Paradieses ein.
Was die ägyptische und die christliche Religion verband, habe indessen beide scharf von der alttestamentlichen Lehre abgesetzt, denn Israel sei die Idee der persönlichen Unsterblichkeit fremd gewesen. Die Gerechtigkeit Gottes habe sich nicht im Jenseits, sondern im Diesseits erfüllt und sei nicht dem Einzelnen, sondern dem Gottesvolk im Ganzen verheißen. In seinen Nachkommen habe der Mensch weitergelebt. Mit Mesopotamien und den Griechen habe das Alte Israel eine Todeswelt gekannt, die nichts mit dem Elysium des ägyptischen Totenglaubens oder dem Paradies der Christen gemeinsam hatte; Sche’ol oder Hades haben den Verstorbenen nur eine schattenhafte Existenz ermöglicht. Zu Jesu Zeiten glaubten allerdings die Pharisäer bereits allgemein an die persönliche Unsterblichkeit, während die Sadduzäer den Gedanken weiterhin ablehnten.
Ob es zutrifft, dass dem antiken Judentum mit dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit der an die Existenz der Seele wirklich unbekannt gewesen sei, ist in der alttestamentlichen Wissenschaft zwar umstritten,196 die Ausrichtung auf das jenseitige Seelenheil hat aber schon im frühesten Christentum eine viel größere Rolle als im alten Judentum gespielt. Das ist natürlich für die Frage nach dem Aufkommen von ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ relevant. Allerdings hat sich die Idee des Seelenheils auch bei den Christen nur allmählich entfaltet. Jesus selbst widmete sich kaum der Auferstehungsfrage, da er die Ankunft des Gottesreiches in nächster Zeit erwartete.197 Auch Paulus lebte in der Zuversicht baldiger Auferstehung.198 Im Gegensatz zur (heidnischen) griechischen Überlieferung betonte der Apostel aber den für das Christentum fundamentalen Glauben an die Auferstehung der Seele mit ihrem Leib.199
Als den ersten Christen klar wurde, dass sich die Verheißung der Endzeit nicht sogleich erfüllte, mussten sie über den Verbleib der Verstorbenen nachdenken. Dabei knüpften sie zunächst an jüdische Hades-Vorstellungen an und sahen die Entschlafenen im Wartezustand bis zum Gericht am Jüngsten Tag. Dann werde sich der Leib aus seinem Grab erheben und die Seele aus dem Hades auferweckt. Die Märtyrer glaubte man allerdings schon unmittelbar nach dem Tod in den Himmel aufgenommen, wo sie bis zum Jüngsten Gericht ebenfalls eine Art Zwischenzustand auf sich nehmen mussten; der Apokalyptiker Johannes, der ungefähr eine Generation nach Paulus schrieb, erblickte sie am Fuße des himmlischen Altares.200 Allmählich entwickelte sich die Vorstellung, dass unter den Seelen im Hades schon vor dem endgültigen Gericht eine Scheidung in Gerechte und Sünder getroffen werde; einen Anknüpfungspunkt bot dafür die Lazarus-Parabel Jesu: „Es begab sich aber, dass der Arme [Lazarus] starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide große Qualen in dieser Flamme“ (LK 16, 22–35).201 Der Schoß Abrahams wurde zum vorläufigen Ort der Gerechten bis zum Endgericht, während die Reichen (oder Bösen) in den Flammen für ihre Sünden büßen müssen. Der für sie unerreichbare Platz der Erquickung, wo sie ihre Zunge zu kühlen ( refrigerare ) hofften, wurde zum refrigerium . Der Kirchenschriftsteller Tertullian sprach deshalb um 200 u. Z. vom interim refrigerium („Ort der zwischenzeitlichen Erquickung“) und stellte dieses dem interim tormentum („Ort der zwischenzeitlichen Qualen“) gegenüber, das allerdings noch nicht das Höllenfeuer war.202 Schon die ältesten Totengebete der römischen Liturgie haben auch vorausgesetzt, dass die Heiligen, die Engel oder Christus selbst den Verstorbenen zu Hilfe kommen und die Seelen in den Schoß Abrahams geleiten können, damit diese dort mit Lazarus ihre vorläufige Ruhe finden.
Christliche Jenseitsvorstellungen als religiöser Horizont der ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ lassen sich nur mit Mühe ordnen. Zu Recht hat man diesbezüglich im Hinblick auf das lateinische Mittelalter davon gesprochen, eigentümlich sei ihr Reichtum mit ihrer Präzision im Detail bei mangelnder Folgerichtigkeit im System.203 Die Gründe dafür lagen schon in der christlichen Bibel selbst. Die Evangelisten Matthäus und Johannes zeichnen etwa ein ganz unterschiedliches Bild vom Weltgericht am Ende aller Zeiten. Nach Matthäus müssen sich alle Menschen vor dem Gericht verantworten. Wenn der Menschensohn komme in Begleitung aller Engel, werde er, auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzend, alle Völker wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheiden. Die Schafe werde er zu seiner Rechten stellen, die Böcke zu seiner Linken. Die auf seiner Rechten werde er auffordern, als Gesegnete seines Vaters das Reich in Besitz zu nehmen, das ihnen schon seit Anfang der Welt bereitet sei. Die links von ihm stehen, werden hingegen als Verfluchte in das ewige Feuer geschickt (Mt 25, 31–46). Nach dieser Eschatologie gab es nur Gute und Böse, die im Weltgericht zum Himmel oder zur ewigen Hölle verurteilt werden. Für den Evangelisten Johannes konnten hingegen die Guten dem Weltgericht entgehen: „Wahrlich, wahrlich, sage ich euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen (…). Wundert euch darüber nicht. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme [die Stimme des Sohnes Gottes] hören werden, und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (Joh 5, 24 und 28f.).204 Diese Botschaft wird so gedeutet, dass es neben den ohne Gericht in den Himmel gelangenden Guten noch Halbgute gebe, die sich zusammen mit den Schlechten dem höchsten Richter stellen müssten und so eine zweite Chance auf die Seligkeit erhielten. Die Unterscheidung weiter entfaltet hat der heilige Augustinus (gest. 430); der Kirchenvater aus Afrika stellte sich vor, dass die „sehr Guten“ und die „sehr Bösen“ sofort nach ihrem Tod in den Himmel oder in die Hölle eingingen und Gericht nur über die „nicht sehr Guten“ und „nicht sehr Schlechten“ gehalten werde.205 Nach einer anderen christlichen Überlieferung soll Jesus selbst in die Hölle hinabgestiegen sein, die Tore geöffnet und Vorväter des Alten Testaments befreit und ins Paradies geführt haben. Das hier angesprochene Totenreich ähnelt eher der Unterwelt im antiken Sinn; nach Mt 12, 40 sei Jesus ins Innere der Erde vorgestoßen und dort drei Tage und drei Nächte geblieben, so lange wie Jonas im Bauch des Meerungetüms.206
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