Die Emma-Pauline: »Da wirst du zu tun haben, bis es wieder eingefangen ist!«
Eine Petromax-Petroleumlampe erhellt diffus den gemütlichen Raum. Der Detlef schaut sinnend und nachdenklich in die ganz leise zischende Flamme. Er ist nicht nur ziemlich neu in der Runde, sondern auch handwerklich völlig unbegabt. Er kann gerade noch einen angedörrten Christbaum aufhängen, von dem schon leise die Nadeln herabregnen, oder vielleicht eine Kerze anzünden, ohne sich die Finger zu verbrennen. Deshalb lauscht er bewundernd, als die gerne plaudernde und nicht nur technisch begabte Geschichtsstudentin Anna-Lena in dozierendem Ton wie oft üblich in einem längeren Satz wieder einmal besonders schlau sein will:
»Bei dieser tollen Erfindung der Petromax-Lampe wird das Petroleum unter Druck durch einen Vergaser geleitet, und der dadurch verdampfende Brennstoff wird in einem Glühstrumpf verbrannt, wodurch ein gemütliches Licht entsteht, und der Erfinder war 1910 ein Berliner Kommerzienrat namens Max Graetz, und dieser Max Graetz wurde von seinen Berliner Freunden ›Petroleum-Maxe‹ genannt, und daher der Name ›Petromax‹ für die Lampe, und der Glühkörper besteht aus einem Kunstseidengewebe, das bei der Herstellung mit mehreren Salzen imprägniert wird und bei der ersten Inbetriebnahme der Laterne abbrennt, das heißt in Asche verwandelt wird und …«
Hier wird sie endlich unterbrochen, weil die anderen, der Elias, der Marcel und die Emma-Pauline, diese Geschichte und das Mitteilungsbedürfnis der Freundin längst kennen. Deshalb meint der Marcel nur: »Hoffentlich steigst du nicht von Frauenpower auf Rinderwahnsinn um.« Beleidigt schweigt Anna-Lena.
Es wird vorübergehend heimelig still in der romantischen Hütte. Das Feuer prasselt, Schnee peitscht an die Scheibe, und das Heulen des Sturms dringt gedämpft durch das kleine, einglasige Fenster in die Stube, das leise in seiner lockeren Fassung zittert.
»Hoffentlich kehrt der Martl bei diesem Schneesturm wieder um. Da kommt der niemals durch bis zu uns«, wirft der Detlef plötzlich besorgt in die stille Runde. Alle werden nachdenklicher. »Sollen wir die Bergwacht anrufen?«, fragt er. Die anderen schütteln ihre Köpfe.
»Wahrscheinlich weißt du noch nicht, dass man hier oben kein Handynetz hat. Außerdem ist der Martl ja ein übergescheiter, oberschlauer Bursche. Bisher ist er immer noch aus jeder brenzligen Lage wieder heil herausgekommen und kann anschließend hoffentlich wie immer seine Abenteuer besonders blumig und fantasievoll erzählen. Da ist er ja einmaliger Spezialist. Darauf freuen wir uns jetzt schon. Noch dazu ist er vielleicht gar nicht zu sehr weihnachtlich-betrunken, wenn es bergauf geht. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir wegen dem verrückten Kerl ausrücken müssten.«
Allmählich ist ein dämmriges Tageslicht angebrochen. Die Hüttenbelegschaft liegt im oberen Kammerl, teilweise tief schnarchend, unter dem seit Langem, vielleicht sogar dem letzten Weltkrieg, da oben versammelten, groben Deckeninventar. Das schräg hereinströmende Morgenlicht würde den tief Schlafenden die unangenehmen Staubwolken luftspiegelnd bei jeder ihrer Bewegungen sichtbar machen, wenn sie nicht im Nirwana des Schlafes abwesend wären. Der Himmel stülpt sich draußen blaugrau und durch das beginnende Morgenrot zuerst perlrosa, dann feurig orangefarbig über die umstehenden hohen und höchsten Gipfel. Die Kälte hat nachgelassen. Es taut allmählich weiter auf, und für die Weihnachtstage kommt untypisches Föhnwetter auf. Ein milder Hauch streicht leise über die verschneiten Hänge. Der Schnee wird stumpf und wässrig.
Nach längerem Suchen hat der Martl endlich wieder den schmalen Aufstiegspfad gefunden. Fröhlich pfeifend und energiegeladen stapft er durch die Schneewehen munter aufwärts und schüttelt das bleierne Gefühl der langen Nacht mit dem pünktlich eingetroffenen Whisky-Kater ab. Irgendwann – es eilt überhaupt nicht – kommt das romantische Bild der Hütte, die sich unter die Felstürme duckt, in Sicht. Jetzt zeigt sich, dass das Weihnachtsgeschenk seiner Freundin vom letzten Jahr, der Jodelkurs, den er damals im Herbst eifrig, aber nicht besonders erfolgreich absolviert hat, die beste Geschenk-Entscheidung war. Laut und froh schallend schwellen die urigen, teilweise sogar fast harmonischen Tonfolgen in die hehre Morgenstimmung hinein. Die gesamten Bergwaldbewohner, ob Hirsch, Reh oder Hase, haben sich rechtzeitig abgesetzt. Er weiß, dass ihn hier niemand wegen seiner unmusikalischen und zweifelhaften Veranlagung kritisieren wird.
Laut genug, um zumindest teilweise die Schlafenden oben im Kammerl zu wecken, ist sein Gejodel. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch den frischen, wunderbaren Morgen gleich begrüßen wollen. Erst als ihr Freund polternd und singend eingetroffen ist, schälen sie sich allmählich aus den modrigen Deckenkokons. Verschlafen und gähnend kommen sie die Leiter herunter und jetzt freuen sie sich sogar, dass der Martl bereits Kaffee gekocht und das Frühstück vorbereitet hat. Es duftet herrlich.
Zunächst herrscht beinahe vollkommene Stille. Dann wird der Martl munter. Er erzählt langatmig und hin und wieder sogar spannend wie gewohnt von seiner einsamen, unheimlichen, weihnachtlichen Winternacht unter der überhängenden Felswand, die er ohne abzustürzen und ohne erfroren zu sein überstanden hat. Und wie er anschließend zur Hütte heraufgespurtet ist.
Ernst meint der Adrian: »Was für ein großes Glück, dass du da bei der immensen Geschwindigkeit nicht geblitzt worden bist.« Ein paar Sonnenstrahlen haben bereits durch das kleine Fenster den Weg in die Stube gefunden.
Die Anna-Lena muss endlich wieder ihren Ideenreichtum mit den anderen teilen. Sie beginnt, diesmal nicht in einem unendlichen Satz, zu erzählen, wie sie die gehobene Bücherwelt durch ihre, wenn auch etwas laienhafte, spaßige Nonsensdichtung erobern will:
»Ich habe dazu jahreszeitliche Lyrik verfasst und hier vermittle ich euch ein paar spannende Ausschnitte, logisch mit dem Winter beginnend.
Die Berge wirken, wie man sehen kann, durch den Föhn sehr erhaben in ihrer weißen Pracht. Ja, man kann sogar ohne Übertreibung sagen, Berge sind bei dieser Gelegenheit das Höchste – vom Tal aus gesehen. Will man zu dieser Jahreszeit ungefährdet hinaufgelangen, nimmt man sich vorsichtshalber einen winterfesten Bergführer mit, da einerseits der Schneefall, andererseits auch die düsteren, kurzen Wintertage gefährlich weit in diese Jahreszeit hineinragen können. Im abgelegenen Gebirge ist es aber durchaus möglich, dass der Bergführer, kaum oben angelangt, nicht mehr den Berg hinabsteigen will. Der erfahrene Tourist hat deshalb vorgesorgt und einen Talführer mit hinaufgeschleppt. Diese Sorte ist nur widerwillig nach oben zu bringen, oft fast nur mit etwas Gewalt. Ist der Talführer erst einmal oben, muss er bis zum Aufbruch verlässlich angebunden werden, am besten am stabilen Gipfelkreuz, weil er sofort wieder zurück ins Tal will. In der Schweiz, im Kanton Uri, wo die urigsten und kräftigsten Berg- und Talführer vorkommen, ist gelegentlich beobachtet worden, dass besonders starke Exemplare dieser Art versucht haben, einen Berg zu führen. Vor diesen kann nicht genug gewarnt werden, weil sie die Berge mitsamt den oben rastenden Touristen wegführen wollen, obwohl ihnen bekannt ist, dass nur der Glaube Berge versetzen soll. Die Berge können anderswo, aber auch in der Schweiz, weder im Winter, noch im Frühjahr oder zu anderen Jahreszeiten aufgrund der verschiedenen Namen verwechselt werden. Als Beispiele unverwechselbarer Bergnamen sind zu nennen: Blitzpalü, Marterhorn oder Tante Rosa. Wandert man im Frühjahr von Hütte zu Hütte, heißen diese im Einzelnen auch Herberge. Stehen sie näher zusammen, handelt es sich um ein ganzes Hergebirge. Damit sind wir mir nichts dir nichts schon bei der Ein- und Vielzahl angelangt. Berg: Einzahl. Berge: Leichte Mehrzahl. Gebirge: Schwere Mehrzahl. Abschließend ist mit voller Beweiskraft nur noch zu sagen, dass auch diese Winterjahreszeit, wie alle anderen, im Gebirge immer wieder vorkommt.«
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