Wenn wir davon ausgehen, dass stille und laute Menschen in etwa dieselbe Anzahl an guten oder schlechten Ideen haben, dann sollte der Gedanke, dass nur die lauteren und energischeren Menschen sich durchsetzen, uns besorgt aufhorchen lassen. (…)
Sorgfalt, Analyse, Konzentration – das sind die Stärken der Stillen. Warum geben wir ihnen trotzdem immer wieder das Gefühl, nicht gut genug zu sein?3
Die Herausforderung, Kontakt mit anderen Menschen aktiv zu gestalten, beginnt für introvertierte Menschen schon in ihrer Kindheit. Sie sind (zumindest in Gegenwart Fremder) in sich gekehrter als andere, und Eltern machen sich manchmal Sorgen, wenn sie ihr Kind als zurückhaltend und schweigsam erleben. Oft spielen solche Kinder gern allein, und ihr reiches Innenleben zeigt sich in kreativen und phantasievollen Rollenspielen mit sich selbst oder ihren Spielzeugen. Oft lesen sie gern, malen oder machen vielleicht Musik.
„Als introvertiertes Kind und Jugendliche war ich in meinem Kopf gefangen und habe furchtbar gelitten. Auf meine Umwelt wirkte meine versteinerte Miene wohl eher hochnäsig.“
Martina Ziel
Ein in sich gekehrtes Kind, bereits durch etwas Lärm und „Trara“ überfordert, wird, so fürchten die Eltern, im Leben Probleme bekommen.
Woher kommt der Begriff „Introvertiertheit“?
Introvertiert: nach innen, auf das eigene Seelenleben gerichtet. Aus lat. Introvertierter „hinein“ und lat. vertere „wenden“.
Der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung benutzte als einer der Ersten in der Psychologie die Begriffe Introvertiertheit und Extrovertiertheit bei der Typisierung von Menschen.4 Er erklärte die Introvertiertheit als eine Hinwendung der psychischen Energie nach innen, weg von der Außenwelt.
Jung war ein guter Beobachter. So war ihm bei seinem täglichen Umgang mit Patienten schnell klar, dass diese nicht nur „Träger eines bestimmten Krankheitsbildes“ waren, sondern als Menschen, die unterschiedlich fühlen, denken und wahrnehmen, auch ihre Erkrankung unterschiedlich erleben – und entsprechend unterschiedlich behandelt werden müssen. Er verstand sich hier als eine Art „Übersetzer“, versuchte, dem Einzelnen zu helfen, sich selbst zu verstehen, und zwischen Menschen, die Dinge unterschiedlich wahrnehmen, zu vermitteln, indem er etwa Ehepartner immer wieder auf die unterschiedliche Natur des anderen hinwies. Um diese Problematik erklären zu können, entwickelte er eine Persönlichkeitslehre, in der er zunächst zwischen aktiven und passiven, dann zwischen bedenkenden und unbedenklichen Naturen unterschied. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Menschentypen zeigt sich seiner Beobachtung nach in der Form ihrer inneren Reaktion auf Außenreize: Die einen reagieren mit Rückzug, scheinen innerlich zunächst einmal „nein“ zu sagen, während die anderen sich schnell und offen einlassen können. Für diese beiden Einstellungen benutzte er die Begriffe introvertiert und Extrovertiert.
„Begeisterung besitzen beide Typen“, aber … „fließt dem Extrovertierten der Mund über, wessen ihm das Herz voll ist“, so schließt „die Begeisterung dem Introvertierten den Mund“.5
Als Introvertierte in einer lauten Welt
Man könnte den Eindruck gewinnen, als seien die Extrovertierten in der Überzahl. Aber ob es nun wirklich mehr Extrovertierte als Introvertierte gibt, ist nicht so ganz klar. Einige Experten schätzen das Verhältnis extrovertiert zu introvertiert in der Bevölkerung auf 70 % zu 30 %, andere gehen davon aus, dass das Verhältnis halbwegs ausgeglichen ist, die Introvertierten aber nicht so auffallen. Außerdem haben viele introvertierte Menschen sich den Erwartungen ihrer Umwelt angepasst und sind nicht sofort als introvertiert erkennbar.
In Politik und Wirtschaft scheinen mehr Extrovertierte an der Spitze zu stehen – die deutsche Kanzlerin Angela Merkel aber gehört wohl eher zu den Introvertierten, genauso wie ihre Vorgänger Willi Brandt und wahrscheinlich auch Helmut Schmidt, der von sich gesagt haben soll: „Ich muss mich nicht selbst reden hören. Ich rede nur über Dinge, über die ich auch Bescheid weiß. Gut, manchmal rede ich über die vielleicht etwas zu ausführlich, aber ich werde ja auch immer gefragt.“
Einer, den man eigentlich eher für extrovertiert halten würde, beschreibt sich selbst als „einen umgeschulten Introvertierten“: Barack Obama. Der US-Präsident ist nicht nur ein leiser Mensch, sondern gleichzeitig auch cool, witzig und charismatisch. Machtbewusstsein, eine öffentliche Rolle und Introvertiertheit schließen sich also nicht aus.
Im IT-Bereich findet man Introvertierte häufig an der Spitze: Bill Gates zum Beispiel ist so ein stiller Mensch. Mit Reden tut er sich schwer, trotzdem hat er eine einzigartige Karriere hingelegt, ebenso wie Google-Chef Larry Page und Facebook-Gründer Zuckerberg. Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, enthüllt über sich selbst so wenig wie möglich und gilt als scheu und zurückhaltend.
Interessanterweise gibt es unter Künstlern wahrscheinlich überdurchschnittlich viele Introvertierte. In den bildenden Künsten sind sie vielleicht sogar in der Überzahl, denn die Möglichkeit, sich durch ein Kunstwerk auszudrücken, ohne sich dabei der Wirkung einer Gruppe aussetzen zu müssen, liegt Introvertierten sehr. Aber auch im Bereich Schauspiel und Regie sind mehr Introvertierte aktiv, als man denken könnte. Woody Allen ist ein berühmtes Beispiel, der durch seine Art, zu fühlen und zu denken, faszinierende Filme gemacht hat. Steven Spielberg ist ebenfalls introvertiert. Die verstorbenen Künstler Alfred Hitchcock, Robin Williams und Michael Jackson gehörten dazu, Clint Eastwood, Richard Gere, Loriot, Günther Jauch, Bruno Ganz, Corinna Harfouch, Götz George, Matthias Brandt und viele mehr.
Dabei entwickeln die Introvertierten auf der Bühne eine ganz besondere Präsenz. In einem Spiegel-Artikel (34/2012) wurde Matthias Brandt von der Autorin Kerstin Kullmann so beschrieben:
Wenn der Schauspieler Matthias Brandt vor die Kamera tritt, kann er alles: lachen, lieben, toben und hassen. Er kann charmieren, flirten und um den Finger wickeln. Verlässt er jedoch die Aufnahmesituation, fällt ihm das schwer. Und das liegt daran, dass er gar nicht so extrovertiert ist, wie alle meinen. (…)
Der Schauspieler Matthias Brandt kann in einer Rolle aus sich herausgehen. Er überwindet sein Temperament, um zu spielen. Außerhalb des geschützten Raums der Kunst ist er wieder ein zurückhaltender, leiser Mensch. Er sagt: „Aus mir bricht es nicht heraus. Bei anderen tut es das. Bei mir eben nicht.“ (…)
„Ich glaube“, sagt Brandt, „dass es künstlerisch ein sehr interessanter Vorgang ist, wenn man Widerstände überwindet.“ Jedes Mal, wenn er auf die Bühne trete, gebe es einen Moment der Konzentration, bevor er den Mut fasse, aufzutreten.
„Ich gehe dann von innen nach außen“, erzählt der Schauspieler. „Das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Energie, die dann in meiner Arbeit steckt.“ Ein zurückhaltender Mensch, der sich selbst zum Schauspielern überredet – und so herausragende Leistungen vollbringt.
Ob ich introvertiert oder extrovertiert bin, ist nicht grundsätzlich entscheidend dafür, ob ich ein erfolgreiches Leben führe oder nicht. Allerdings ist es für Introvertierte mit anderen Herausforderungen verbunden, wahrgenommen zu werden – und vor allem sich selbst wahr- und ernst zu nehmen. 6
Jede Persönlichkeit hat viele verschiedene Facetten und Anteile. Ich selbst zum Beispiel bin ein zurückhaltender und introvertierter Mensch. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, mich mitzuteilen, es macht mir nichts aus, vor vielen Menschen zu reden. Im Gegenteil: je mehr, umso leichter. Ich rede lieber vor 500 als vor 10 Menschen, denn 500 sind eine Masse, 10 haben ein Gesicht. In Vorträgen bin ich lebendig, kreativ und offen – im Einzelkontakt bin ich eher zurückhaltend. Selbst in der Gegenwart vertrauter Menschen höre ich mehr zu, als selbst zu reden (und daraus habe ich sogar einen Beruf gemacht). Die Aufforderung „Jetzt erzähl doch mal was von dir!“ setzt mich unter Stress, ebenso wie die Frage: „Was war denn so los in der letzten Zeit?“ Meine Antworten darauf sind meist kurz, und ich sorge durch eine Gegenfrage dafür, dass mein Gegenüber redet. Das ist auch meine Smalltalk-Methode: Ich erzähle nicht, ich lächle und frage.
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