Ich lag eine ganze Weile einfach so da und atmete diesen feinen Bettgeruch ein, bis mein Körper begann, mir klarzumachen, dass er über zwanzig Stunden gearbeitet hatte. Meine Füße waren schwer, ich roch meinen Schweiß und hatte ein pelziges Gefühl auf der Zunge. Müdigkeit kroch von allen Seiten über mich. Oh, jetzt einfach hier liegen bleiben, endgültig in Kühle, Duft und Weichheit versinken und dann mit neuer Kraft aufwachen.
Noch nicht. Ich zwang mich zurück in die Welt und riss mir, noch bevor ich die Augen wieder öffnete, das verdammte Kopftuch ab. Es hatte mich schon genervt, fünf Minuten nachdem ich es umgebunden hatte. Ich knüllte es zusammen und wischte mir damit den Schweiß von der Stirn. Besser. Viel besser. Ich schwang mich auf den Bettrand, öffnete die Augen und sah mich zum ersten Mal richtig im Zimmer um. Es war zweckmäßig karg, aber nicht ganz unfreundlich. Dem Bett gegenüber war ein Schreibtisch an der Wand befestigt, auf dem sich neben dem obligatorischen Briefpapier auch der obligatorische Kuli, das obligatorische Telefon und der obligatorische Fernseher mit der obligatorischen Fernbedienung befanden. Links unter der Tischplatte die – obligatorische – Minibar. In der Wand rechts vom Bett ein großes Fenster, links ebenfalls eine Wand mit zwei Türen. Durch die eine war ich hereingestolpert, die andere führte ins Bad. Auf beiden Seiten des Bettes befand sich ein kleiner Nachttisch. Ich öffnete die Schublade. Klar. Das Neue Testament. Deutsch, englisch, französisch. Mir war das Alte lieber. Ich fand in dem Nachttisch außerdem zwei noch eingeschweißte Sandwiches (Truthahn und Schinken), eine Tüte Apfelsaft und einen verschlossenen Briefumschlag. Ich öffnete ihn, zog ein Blatt heraus und las:
„Sergej,
gut, dass du es bis hierher geschafft hast. Mit etwas Glück ist alles bald in trockenen Tüchern. Du wirst nach Mitternacht Besuch bekommen, sofern er nicht schon bei dir ist. Er wird dir alles Weitere erklären. Du hast mehr Unterstützer, als du denkst. Wusstest du, dass du ziemlich reich bist?
Dazu später. Hast du schon im Bad und im Schrank nachgesehen?
Alles Gute
M“
Ich war verblüfft. Ich hatte mich immer als Einzelkämpfer gesehen, ich hatte, was zu tun war, alleine getan. Zuletzt hatte ich sogar im Irrenhaus keinen Besuch mehr sehen wollen. Und nun stellte ich fest, dass ich Hilfe hatte, Freunde oder zumindest einen Freund. Ich schaute im Schrank nach. Ein langer Mantel und eine Jacke in meiner Größe, ein Paar dunkler, lederner Halbschuhe, eher unauffällig als elegant, und ein Koffer. Ich öffnete ihn: T-Shirts, Hemden, eine Jeans und zwei Baumwollhosen, Unterhosen und Socken. Alles sauber, alltäglich und in der richtigen Größe. Im Bad fand ich einen Kulturbeutel mit allem, was ich brauchen würde, von der Zahnbürste bis zum Aftershave. Ich staunte und staunte. Mit einem Mal hatte ich das Bedürfnis, den Schmutz des Tages von mir abzuwaschen.
Und die letzten drei Jahre.
Und die zwei Jahre davor.
Wäre doch all das nie passiert. Wäre sie doch an diesem einen, verfluchten Tag nicht zu Hause gewesen. Wäre ich nur nicht zu spät gekommen. Hätten sie doch mich vorgefunden und nicht sie. Es wäre, wahrhaftig, anders gekommen.
Aber ich war nicht dort gewesen, hatte nur gefunden, was sie mit ihr gemacht hatten. Ich habe mein Leben begraben und mich auf die Jagd begeben. Ich habe mich früher stets gefragt, was mein Talent war, das, was ich am besten konnte und tun sollte. Ich konnte ein paar Sachen gut genug, um Geld damit zu verdienen, aber tief in mir hatte ich nur zwei Dinge gefunden, für die ich geboren war. Das eine war Sarah. Ich konnte diese Frau lieben, ich konnte sie glücklich machen. Wir hatten fünf Jahre im Paradies gehabt, und vielleicht ist das alles, was jemand wie ich verlangen kann. Denn die andere Sache, die meine Bestimmung ist, fand ich, als sie sie mir genommen hatten: Töten. Die mühevolle, sorgfältige Jagd. Ihre aufmerksame, lustvolle Vollendung.
Ich schälte mich aus der Kleidung, nahm das Messer mit ins Bad und stieg unter die Dusche. Als das warme Wasser Schmutz und Tränen von mir spülte, fühlte ich mich nicht besser, ich hatte mich seit jenem Tag nie wieder besser gefühlt. Aber die Traurigkeit war heißer Vorfreude gewichen. Noch war ich nicht fertig. Drei waren noch übrig.
Es klopfte, als ich gerade vor dem Bett stand und mir die Jeans anzog. Ich schloss die Hose, nahm das Messer wieder in die Hand und rief fröhlich: „Momeeehent, ich komme schon!“
Gleichzeitig fiel mein Blick auf den Radiowecker. 00.07 Uhr. Ich stellte mich so hinter die Tür, dass sie mich aufgehend verdecken musste. Es klopfte erneut. Mark hatte Besuch angekündigt, klar. Aber wusste ich, wer dieser Besuch war?
„Sofooohort!“, flötete ich, drehte den Türknauf und zog schnell nach innen auf.
„Ser …“ hörte ich, im selben Moment erschienen ein Fuß, eine Hand und ein schwarzer Schopf.
Ich packte mit der Rechten zu, riss den Körper an den Haaren herein, schlug mit seiner Stirn und meinem Knie die Tür zu, presste den Besucher dagegen und drückte ihm die Messerspitze ins Genick. Es ging erstaunlich leicht. Während meine Beute noch erschrocken quiekte, registrierte ich nachträglich, was ich nur am Rande meines Bewusstseins wahrgenommen hatte, als mein Instinkt das Kommando übernahm. Der Fuß steckte in Pumps. An dem Arm über der Hand hing ein Armband. Meine Beute war leicht, aber nicht klein, ihr Hals, dessen Adern heftig und sichtbar pochten, war auf der Höhe des meinen. Ich gönnte mir den Luxus, anderes wahrzunehmen als Stellen, in die ich sinnvollerweise mein Messer stoßen konnte. Es war eine Frau in einem hellgrauen Kostüm, groß, schmal, mit langen schwarzen Haaren. Hellbraune Hände pressten sich gegen die Tür. Ich seufzte, trat zurück, steckte automatisch das Messer ein und drehte sie zu mir um. Ein hübsches, asiatisches Gesicht, das ich gut kannte und in dessen dunklen Augen Angst stand. Ich zog sie an mich, und sie ließ sich in den Arm nehmen.
„Tut mir leid, Sandra“, sagte ich leise. „Tut mir ehrlich leid.“
Sie zitterte, und ich hielt sie eine Weile, bis es ihr besser ging. Dann versetzte sie mir mit der Linken, mit der sie sich nicht an mich klammerte, einen schmerzhaften Schwinger gegen den Oberarm.
„Was soll das? Mark hat dir doch gesagt, dass ich kommen würde, oder?“
„Nein, er hat gesagt, ich würde Besuch bekommen. Und als es klopfte, wusste ich nicht, wer das sein würde.“
Sie schüttelte den Kopf, löste sich aus meinem Arm und betastete vorsichtig ihre Stirn. „Das gibt ’ne Beule.“ Sie sah mich an, missbilligend, aber nicht unfreundlich. „Wer zum Teufel sollte es denn sonst sein, um diese Zeit, du paranoider Arsch?“
„Was weiß ich? Polizei zum Beispiel. Außerdem bin ich nicht nur paranoid, sondern …“, ich überlegte kurz, „ … ein Sadist mit dissozialer Persönlichkeitsstörung, glaube ich.“ Ich grinste sie an.
Sie grinste säuerlich zurück. „Ja, und paranoid sowieso. Verdammt, mein ganzer Kopf dröhnt.“
Ich ging ins Bad und tränkte einen Lappen mit kaltem Wasser. Als ich wiederkam, hatte sie das Jackett ausgezogen und sich aufs Bett gesetzt. Darunter trug sie eine weiße Bluse. Ich gab ihr den Lappen und setzte mich neben sie.
„Noch mal von vorne: Hallo Sandra, schön, dich zu sehen.“
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. „Schön, dich zu sehen, Sergej.“
„Es ist komisch, dass ihr mich jetzt Sergej nennt.“
Sie nickte. „Ja, aber wir sollten uns daran gewöhnen. Du bist Sergej Hoffrichter. Ist komisch, für mich auch. Mark und ich reden über dich nur noch als Sergej, seit er den Ausweis hat.“
„Ja, der Ausweis.“ Ich nahm die Jacke vom Stuhl, zog ihn aus der Innentasche und betrachtete ihn. „Der sieht verdammt echt aus. Wo habt ihr ihn her?“
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