Karsten Decker
Der wandernde Aramäer
Sterne am Himmel, Sand am Meer
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Karsten Decker Der wandernde Aramäer Sterne am Himmel, Sand am Meer Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1: Eine Ur-Geschichte
Kapitel 2: Anfang und Ende, Himmel und Erde
Kapitel 3: Loslassen
Kapitel 4: Ein Neubeginn
Kapitel 5: Wo die Liebe hinfällt
Kapitel 6: Ein Land, das ich dir zeigen werde
Kapitel 7: Begegnungen
Kapitel 8: Zuhause als Fremdling
Kapitel 9: Im Schatten der Pyramiden
Kapitel 10: Getrennte Wege
Kapitel 11: Verheißung und Glaube
Kapitel 12: Recht und Unrecht
Kapitel 13: Segen gabst du schon, Segen soll noch werden
Kapitel 14: Hochmut kommt vor dem Fall
Kapitel 15: Verwandte oder verwendete Wahrheit
Kapitel 16: Erfüllte Verheißung
Kapitel 17: Kinder in Gefahr
Kapitel 18: Wie viel Erde braucht der Mensch?
Kapitel 19: Abschied und Neubeginn
Letztes Kapitel: Leben bis zuletzt
Nachwort des Autors
Impressum neobooks
Kapitel 1: Eine Ur-Geschichte
Nahor war 29 Jahre alt und zeugte Terach und lebte danach 119 Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Terach war 70 Jahre alt und zeugte Abram, Nahor und Haran. Dies ist das Geschlecht Terachs: Terach zeugte Abram, Nahor und Haran; und Haran zeugte Lot. Haran aber starb vor seinem Vater Terach in seinem Vaterland zu Ur in Chaldäa. Da nahmen sich Abram und Nahor Frauen. Abrams Frau hieß Sarai und Nahors Frau Milka, Harans Tochter, der der Vater war der Milka und der Jiska.
Genesis 11, 24 -29
Es war einer jener heißen, ja schwülen Frühlingstage im Nissan am Anfang des sakralen Jahres, an denen man die unerbittliche Hitze des kommenden Sommers schon ahnt, gerade so, wie Gliederschmerzen von kommendem Fieber zeugen. Kentaja schlenderte, mehr die Füße schiebend als gehend, die verwinkelten Gassen der Altstadt entlang. Sie musste immer wieder stehen bleiben und tief Luft holen. War es wegen der stickigen, schwülen Hitze, die in diesem Jahr früher als sonst ihren Einzug in Ur gehalten hatte, durchtränkt von den süßlichen Aromen der Gewürze, Tees und Kräuter des Basars, oder war es, weil sich das Kind in ihrem Leib zu heftig und unablässig bewegte? Ja, es war bald an der Zeit. Sie hatte bisher dank ihrer beachtlichen Leibesfülle vor allen verheimlichen können, in welchen Umständen sie war. Doch bald, zu bald, würde sie eine Entscheidung treffen müssen. Sie wusste, wie es den Kindern in der Sklaverei erging. Schemkahiri würde es ihr entreißen, sobald es stark genug zum Arbeiten war oder den richtigen ›Marktwert‹ hatte. Hatte sie nicht am eigenen Leibe erfahren, und trug sie den fleischlichen Beweis dafür nicht nun unter dem Herzen, wie ruchlos und ohne Mitleid er war? Unter ihm würde ihr Kind nie spielen können, keine Zeit zum Lernen, schon gar nicht die ägyptische Sprache und Schrift, keine Freundschaften, und nie, ja nie die Freiheit atmen.
Diese Gedanken gingen ihr noch durch den geschorenen Kopf, als sich vor ihr eine Menschentraube bildete. Was sie zwischen den sich reckenden Köpfen und Schultern hindurch erblickte, ließ sie innerlich erbeben. Sicher, schon oft hatte sie mit angesehen, wie die strengen Sklavenaufseher die Peitsche zur Hand nahmen, doch die Brutalität der Schläge, noch dazu auf den Rücken dieses Jungen - er mochte kaum 14 ägyptische Jahre alt sein - waren dennoch auch für sie ein Schock. Ja, so sieht sie aus, die Kindheit eines versklavten Menschen. Der Junge, der dort so misshandelt wurde, war allerdings kein Ägypter wie sie, das sah sie gleich, eher aus Kleinasien, die gewölbte, hoch aufsteigende Stirn, der hellere sandfarbene Ton seiner Haut, die langen, geraden Arme und Beine. Doch war das von Bedeutung? War man erst einmal versklavt, spielte die Herkunft, die Sprache, die Religion, die Rassen, der Stamm, all die Dinge, die uns sonst unterscheiden und Identität verleihen, keine Rolle mehr. Wie sie diese Demütigungen der Sklaventreiber hasste. Dieser Junge war sicher vom Feldzug vor 8 Jahren gegen die Hethiter oder gegen Gomer und Meschech mitgeschleppt worden. Immerhin, dann hatte er seine frühe Kindheit unbesorgt erlebt, ja hatte er in Freiheit gelebt, richtig gelebt. Doch das ist Vergangenheit. Es hat keinen Sinn, dem Einst hinterher zu weinen. Die fest verschlossenen Bronzeringe an Ihren Füßen wurden noch schwerer. Ja, obgleich sie es sich doch gerade verboten hatte, erinnerte sie sich nun ihrer eigenen Kindheit, einer Kindheit in Freiheit, spielend an den Ufern des Nils, badend, mit anderen Kindern die selbst gebauten Spielzeuge benutzend. War denn niemand hier, der helfen konnte? Dieses barbarische Volk der Chaldäer. Ist der Sieger denn immer im Recht, auch wenn er das Recht mit Füßen tritt? Und heißt denn im Recht sein etwa, dass ich tun und lassen kann, was ich will? Wo sind Werte und Erziehung, der Stolz eines Volkes, wenn es wegsieht, die Augen verschließt? Nicht, wie wir unsere Freunde umwerben, sondern wie wir unsere Feinde behandeln, zeigt, ob unsere Werte es wirklich wert sind, sie anderen Völkern zu bringen. Wie hatte man die Kultur der Chaldäer in Ägypten gelobt, ja verglichen mit denen des fernen Asien, oder auch mit Nubien und Ägypten selbst. Ist denn das ein großes Volk, das Schlachten gewinnt, Völker unterwirft, Prachtbauten errichtet, immer für ein höheres Ziel, eine bessere Zukunft? Befreiung von Tyrannei und Diktatur, nur um unter anderem Namen ausgebeutet und geschunden zu werden. Und die »befreiten« Völker werden tatsächlich von allem befreit, mitsamt den Schätzen, die sich nur irgendwie requirieren lassen: Und immer werden diese sich bereichernden Reiche für sich in Anspruch nehmen, die Welt voran gebracht zu haben.
Noch während sie diese Schelte in ihrem Innern austeilte, musste sie eingestehen, dass in der Rückschau Ägypten nicht anders gewesen war, ja schon vor Jahrhunderten hatten sie die ersten der berühmten Pyramiden auch mit Fremdvölkern für längst vergangene Dynastien gebaut, die sich damals für ewig hielten. Noch ganz in Gedanken, als sie sich gerade angewidert umdrehen wollte, stockte ihr der Atem. Sollten die Götter sie gehört haben, oder war es Zufall?
»Halte ein!« schallte es über die Marktgasse. Ein Mann griff ein, nein, nicht irgendein Mann, kein Sklave, kein Knecht, kein Gefreiter, sondern ein freier Bürger der Stadt, das sah sie sofort, und ein wohlhabender dazu. Die guten Gewänder, teurer Stoff aus den nördlichen Provinzen, Goldketten und Ringe. Mit sicherem und hartem Griff hatte er das Handgelenk des Aufsehers ergriffen, so dass die Peitsche mitten im Schlag erstarb.
»Mein Freund«, sagte er nun mit dieser tiefen, ruhigen Stimme, die tatsächlich um Freundschaft, oder wenigstens gutwilliges Hören warb, »er ist ein Mensch! Es ist ein Kind! So halt’ doch ein! Es ist genug!«
»Wer bist Du, dass du mich maßregelst? Dieser Lump, Abschaum, Sohn eine Natter, hat es gewagt, den Stand am Basar zu verlassen. Alles könnte weg sein, gestohlen, er hat den Hausstand in Gefahr gebracht, die Hand, die auch ihn ernährt, ein dreckiger, kleiner Sklave. Und was geht es dich an? Mach, dass du weiterkommst! Ja, ihr reichen Herren, Viehzüchter, Viehhändler, oder sollte ich sagen Viehdiebe‹ vergesst, wer den Wohlstand erarbeitet.« Kaum hatte er dies gesagt, versuchte er mit der Faust der anderen Hand wieder auf den Knaben loszugehen, wohl in der Hoffnung, seine Worte hätten Eindruck gemacht.
»Du schlägst diesen Menschen nicht! So wahr ein Gott im Himmel und auf Erden waltet, ich lass das nicht zu!«
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