Auch diese Siedler verschwanden wieder, so geheimnisvoll wie sie den Ort gefunden hatten. Doch diesmal verschwanden sie nicht vollständig. Ein Zweig der Familie Krämer, die den Kottenhof in jener Zeit übernommen hatte, bewirtschaftete ihn noch immer, und ihre ältesten Mitglieder erinnerten sich trübe an Geschichten aus sehr alter Zeit, auch wenn die Jungen sich nicht mehr dafür interessierten. Und wenn Gustav Wegner, der verwirrt, aber voller großer Gedanken und plötzlicher neuer Pläne nach Hause schlurfte, seinem Großvater oder Urgroßvater von der Begegnung mit dem Fremden vor dem Gut berichtet hätte, so hätten sie vielleicht noch genug Wissen gehabt, ihn zu warnen. Oder zu beglückwünschen – je nachdem.
Neurath lag im Sterben. Wieder einmal. Aber die Ankunft des Fremden würde allem eine neue Richtung geben, lange vor dem Feuer. Und was würde sich dann aus der Asche erheben?
E-Mail Erin Simpsons an Fletcher Simpson, 17.07.
Fletch, my Love
I’m going to leave Germany, I’m coming back to Grizzland.
Everything has crashed, just as you said it would.
May I still stay with Jannice and you? Only to get into myself again?
I’m at a friend’s at the moment.
Tell Ma & Da if you want. All the same to me.
Need your help.
Your Big Bad Sister,
Erin
Ich betrat den Pub etwas früher als sechs, er war noch nicht da. Auf meinem Weg durch den Schankraum sammelte ich ein paar Blicke ein, aber das hier war ein toleranter Laden, mehr als komisch ansehen würde mich hier keiner. Ich hatte bei meinen Einkäufen extra auf auffällige Kleidung geachtet, um von meinem Gesicht abzulenken, denn das war es, was in den nächsten Tagen in allen Zeitungen und auf allen Fernsehkanälen zu sehen sein würde.
Ich hatte mich zuerst in Langenrath mit einem Gürtel und einem Paar billiger Sportschuhe versorgt, so dass ich nicht mehr aussah, als hätte ich mich aus einem Kleidercontainer eingekleidet. Außerdem erstand ich eine Sonnenbrille und ein mit Totenkopfmotiven bedrucktes Tuch, das ich als Kopftuch trug. Jetzt sah ich zwar todsicher aus wie ein Irrer, aber wie einer von denen, denen man alle Tage begegnet. Außerdem verdeckte das Tuch meine Haare und die Narbe auf meiner Stirn. Ich ging zurück zum Bahnhof, fuhr ein paar Stationen weiter, bis Opladen, und erstand eine rote Kunstlederjacke und einige T-Shirts und Shorts. Bei nächster Gelegenheit wollte ich die letzten Reste meiner Anstaltskleidung loswerden. Meine Neuerwerbungen brachte ich in einer billigen Sporttasche unter, dann machte ich mich auf den Weg nach Köln. Es war früher Nachmittag, als ich ankam. Als ich den Bahnsteig betrat, spürte ich zum ersten Mal wirklich meine Freiheit. Hier war ich oft gewesen, diesen Bahnhof hatte ich fast so gut gekannt wie meine eigene Wohnung. Das Gewirr der Geräusche, die vielen tausend Schattierungen von Grau unter der permanenten Dämmerung des alten Daches aus Stahl und Glas. Und nun war ich wieder hier. Ich konnte alles tun – ich war frei. Ich ließ mich durch die Menschenmenge auf dem Bahnsteig treiben und genoss es. Kurz vor der Treppe nach unten wurde ich ziemlich rüde angerempelt. Ich fuhr herum. Vor mir stand eine kleine alte Frau, die einen fetten Dackel auf dem Arm trug.
„Was fällt …“, fing sie an zu keifen.
Ich lächelte sie an. Sie verstummte. Der Dackel winselte und schob seine Schnauze unter ihre Achsel. Ich hielt das nicht für eine gute Idee.
„Verzeihung“, sagte ich freundlich, ich war in Gönnerlaune.
Sie nickte, wandte schnell den Blick ab und trippelte hastig an mir vorbei, die Treppe hinunter. Ich sah ihr nach und wartete darauf, dass sie stolperte und auf das fette Hundevieh fiel, aber sie tat mir den Gefallen nicht. Ich folgte ihr gemächlich und schlenderte an kleinen Geschäften und Aushängen entlang dem Ausgang entgegen. Keiner der Polizisten in der Halle nahm Notiz von mir. Ich verließ den Bahnhof, stieg hoch zur Domplatte und starrte einige Minuten lang den Dom an. Wenn man drei Jahre in immer derselben Umgebung zubringt, stets darauf bedacht, sich weder vom Irrsinn der anderen Patienten noch von dem des Personals anstecken zu lassen, vergisst man einfach ein paar Sachen. Zum Beispiel, wie der Kölner Dom wirklich aussieht.
In einem Waffengeschäft kaufte ich ein kleines, zweischneidiges Messer, sehr schön, sehr scharf, sehr unauffällig und leider auch nicht billig. Im Pub wartete ich auf Mark. Eine junge Kellnerin kam vorbei, und ich bestellte Laphroaig vom letzten Rest des Geldes. Muss ich erwähnen, dass es in der Anstalt keinen Whisky gegeben hatte? Aber nun war ich frei. Ich nahm einen Schluck und genoss jede einzelne Nuance. Ich wollte gerade zum zweiten Schluck ansetzen, als Mark hastig um die Ecke bog. Ich erkannte ihn sofort. Immer noch dieselbe wirre Frisur, die wunderbar mit dem stets leicht irritierten Blick korrespondierte. Und immer noch dieselbe abgetakelte Lederjacke. Ich hatte ihm vor fünf Jahren zum ersten Mal geraten, sie wegzuschmeißen, und da hatte ich schon mindestens ein Jahr mit mir gerungen, wie ich es ihm beibringen könnte. Ich wusste nicht, ob er sich wirklich nicht verändert hatte oder ob er das alte Outfit angelegt hatte, damit ich ihn sofort erkannte. Er war wahrscheinlich der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte, aber als ich ihn sah, wusste ich, dass ich auch keinen anderen brauchen würde. Es war dasselbe warme, glückliche Gefühl, ihn zu sehen, wie früher. Trotzdem löste ich das Messer im Halfter unter meiner Jeans, nur für den Fall, dass seine Gefühle nicht mehr die alten waren.
Zu meiner Überraschung ging er achtlos an mir vorbei, obwohl ich sicher war, dass er mich gesehen hatte. Er setzte sich an die Bar und bestellte deutlich hörbar Bushmill’s. Irischen Whiskey, den er, wie ich genau wusste, hasste. Er trank ihn zügig, zahlte, ging auf die Toilette und verschwand wieder. Im Gehen rempelte er fast die Kellnerin an, die ihm verwundert nachblickte. Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert. Verdattert sah ich ihm hinterher, dann kam mir eine Idee. Ich nahm die Treppe hinunter zur Toilette, wartete, bis ich alleine war, und sah mich um. Aber da war nichts, alles war wie immer – also genau wie vor Jahren, als ich zum letzten Mal hier gewesen war. Ich untersuchte die Spülkästen – auch da war nichts, keine Nachricht, keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass Mark etwas für mich hinterlassen haben könnte. Ich war fast schon wieder draußen, als mein Blick auf die gerahmte Replik eines Zeitungsartikels über den Revolutionär Michael Collins fiel, die neben den Waschbecken hing. Den IRISCHEN Revolutionär Michael Collins. Hinter dem Bild fand ich einen braunen DIN-A5-Umschlag.
In einer der Toilettenkabinen öffnete ich das kleine Paket und schüttelte den Inhalt zwischen meine Beine auf den Klodeckel. Er war erstaunlich. Ein älterer Personalausweis mit meinem Bild – ich erkannte eines der Passphotos, die ich einige Wochen vor Sarahs Ermordung hatte machen lassen. Ich hieß, wie ich verblüfft feststellte, Sergej Hoffrichter, war am 8. März 1970 in Potsdam geboren und wohnte in Hamburg. Ich starrte das Dokument an, drehte es hin und her, befühlte es. Ich untersuchte es auf jedes Detail. Es wirkte absolut echt. Auf dem Klodeckel lagen außerdem ein Schlüssel zu einem Zimmer in einem der Hotels der Altstadt, fünfhundert Euro und ein zusammengefaltetes Stück Papier. Es enthielt eine kurze Notiz:
„Sergej,
ich werde wahrscheinlich beobachtet. Wir haben befürchtet oder gehofft, dass so etwas eines Tages passieren würde, und uns darauf vorbereitet. Gehe in das Hotelzimmer, es ist auf deinen Namen gemietet, und warte ab Mitternacht auf Besuch.
Wir haben nichts vergessen.“
Wer war „wir“? Egal – Sergej Hoffrichter … klang so schlecht gar nicht. Ich packte die Sachen zusammen und steckte sie ein. Es war noch lange nicht Mitternacht. Genug Zeit für ein paar Kilkennies, etwas Stew, noch einen Laphroaig und vielleicht eine Tasse Tee. Ich verließ den Pub gegen zehn. Zuletzt waren die Blicke der Kellnerin ob meiner anhaltenden Nüchternheit derartig ehrfürchtig gewesen, dass ich ein leichtes Schwanken simulierte, als ich das Lokal verließ. Es war eine schöne, nicht zu warme Sommernacht und ich war schon viel gelaufen an diesem Tag, aber ich genoss es nach den Jahren in Unfreiheit. Ich schlenderte beschwingten Schrittes die Friesenstraße hinauf, die Zeughausstraße entlang und immer Richtung Dom. Kurz vor dem Dom bog ich in die Altstadt ab. Ich kannte das Hotel von früher, als ich, in einem anderen Leben, häufig Kollegen dort einquartiert hatte. Es war eines jener angenehm anonymen Häuser für Geschäftsgäste. Freundlich desinteressierter Service, keine Fragen, sofern man am Ende korrekt zahlte. Ich nahm meinen Schlüssel gut sichtbar in die Hand und simulierte ein – diesmal deutliches – Schwanken, als ich das Foyer betrat. In weitem Bogen auf das Treppenhaus zuwankend orientierte ich mich: Frühstücksraum, Sauna, Schwimmbad, Rezeption, Aufzüge, Etagennummern. Der Nachtportier, ein müder Inder, schenkte mir einen kurzen, professionellen Blick, sah den Schlüssel und wandte sich wieder der Zeitung zu, die vor ihm auf der Rezeption lag. Er hatte garantiert schon Außergewöhnlicheres gesehen. Ich wankte ins Treppenhaus und stieg die Treppen hinauf, in die vierte Etage, ging dort einen kahlen Gang mit Krankenhaus-Charme entlang, bis ich Zimmer Nummer 425 fand. Das Licht ging automatisch an, als ich die Tür öffnete. Unter der blauen Tagesdecke des Doppelbettes lugten leuchtend zwei frische und gewiss duftig-kühle Kopfkissen hervor. Oh ja. Ich trat die Tür hinter mir zu und fiel im nächsten Moment bäuchlings auf das Bett. Ich schaffte es gerade noch, die Tagesdecke beiseitezureißen und das blütenweiße Innere zu entblößen. Ja, es war kühl. Ja, es duftete.
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