Ich fragte nach Mark, nannte seinen Wohnort und hörte sie auf der anderen Seite ein wenig mit dem Computer klackern.
„Förster mit ‚Ö‘?“
„Ja.“
„Hm, da finde ich keinen Eintrag. Wissen Sie vielleicht die Straße?“
„Nein.“
„Tut mir leid, dann finde ich nichts.“
Ich fluchte innerlich. Entweder, er hatte wieder eine Geheimnummer, oder er war weggezogen.
„Was ist mit Park? Sandra Park?“
„Park wie der Park?“
„Ja.“
Klacker, klacker. „Ich habe hier Jin-Ju Park.“
„Nein, Sandra.“
„Sandra Park finde ich nicht.“
Ich seufzte, und sie lachte am anderen Ende der Leitung.
„Tut mir wirklich leid.“
Mir fiel mir noch etwas ein. „Was ist denn mit der Rheinischen Zeitung in Köln? Die gibt’s doch hoffentlich noch, oder?“
„Moment.“ Klacker, klacker, klacker. „Da gibt’s mehrere Nummern.“
„Ich möchte die Redaktion.“
„Die Nummer wird angesagt.“
Mangels Stift prägte ich mir die Zahlen ein und wählte erneut. Die Nummer war richtig, aber ich erreichte nur einen automatischen Anrufbeantworter und legte auf. Pech gehabt. Ich baute mir einige abenteuerliche Eselsbrücken, um die Zahlen zu behalten. Dann begann ich, mich dem Problem, Geld‘ zu widmen.
Die einfachste Lösung wäre gewesen, an einer einsamen Stelle einem Passanten aufzulauern und ihn um seine Brieftasche zu erleichtern, aber das brachte zu viele Unwägbarkeiten mit sich. Passanten waren um die Zeit dünn gesät, und ich konnte nicht wählerisch sein. Das erhöhte nur das Risiko, aufzufallen, also entschied ich mich für einen komplizierteren und langwierigeren, aber letztlich sichereren Weg. Ich begann, Parkplätze abzusuchen, angefangen mit dem bei der Post. Natürlich standen hier um diese Zeit wenige Autos, aber dafür kamen auch wenige störende Zeugen vorbei. Ich musste lange suchen, aber auf dem sechsten Parkplatz, schon wieder etwas außerhalb des Zentrums am Waldrand gelegen, wurde ich fündig. Auf dem Rücksitz eines silbernen Passats lag eine Handtasche. Ich hatte unterwegs einen großen Stein aufgelesen, mit dem schlug ich eine Scheibe ein, klaubte die Tasche heraus, ein widerliches, hellbraunes Monstrum, und setzte mich zwischen die Bäume ab. An einem kleinen Bach tief im Gehölz sitzend, untersuchte ich den Inhalt. Ich fand schnell eine Brieftasche, der ich entnahm, dass meine unfreiwillige Unterstützerin Andrea Gehlog hieß und ein inniges Verhältnis zu mehreren Pudeln hatte, deren Bilder in jedem zweiten Fach steckten. Ich fand im Rahmen der weiteren Inspektion ein Portemonnaie aus rotem Samt, das fast noch scheußlicher war als die Tasche selbst. Aber Andrea war großzügig, sie spendete hundertsechzig Euro. Die nahm ich, warf dann die hässliche Tasche in den Bach und den Inhalt einzeln hinterher.
Als ich wieder bei der Post ankam, war es Vormittag geworden. Wieder versuchte ich, die Rheinische Zeitung zu erreichen. Die Eselsbrücken hielten. Ich fragte mich durch, bis mich jemand mit Mark verbinden konnte. Dachte ich.
„Rheinische Zeitung, Ansgar Halberich.“
„Was?“
„Halberich, Rheinische Zeitung, kann ich Ihnen helfen?“
„Ich wollte mit Mark Förster sprechen. Ist er da?“
„Ja, aber er spricht gerade. Kann er Sie vielleicht zurück …“
„Ich stehe in einer Telefonzelle.“
„Vielleicht kann ich …“
„Ich würde gerne persönlich mit ihm sprechen.“
Mein Gegenüber seufzte. „Ich spreche ihn mal an, Moment. Wie ist denn Ihr Name?“
„Hans Müller.“
„Einen Moment.“
Er drehte sich offenbar vom Telefon weg, aber ich hörte trotzdem, was er sagte.
„Mark, hör mal grade. Da ist jemand für dich. Nennt sich Hans Müller.“
Ich verstand die Antwort nicht. Mein Gesprächspartner wandte sich wieder mir zu.
„Er möchte gerne wissen, worum es geht.“
Ich überlegte schnell.
„Sagen Sie ihm, es geht um die Sache mit dem Krankenhaus. Und dem Bild.“ Ich hoffte, er würde den Hinweis verstehen.
Lange Stille, dann wieder Kollege Halberich.
„Moment, er geht ins andere Büro. Ich stelle durch.“
Einige Sekunden ertönte eine grässliche Computerversion von „Bright Eyes“, dann ein Knacken in der Leitung.
„Mark Förster.“
„Weißt du, wer ich bin? Erkennst du meine Stimme?“, fragte ich.
„Nein. Aber wenn du der bist, für den ich dich halte, ist das kein Wunder. Wir haben vor fast zwei Jahren zuletzt miteinander gesprochen.“
Ich rechnete kurz. „Ja, das stimmt.“
Er zögerte. „Ich bin nicht sicher.“
„Was soll ich machen?“
Er überlegte. „Du hast von einem Bild gesprochen. Wann und wo habe ich es dir gegeben?“
„Du hast es mir nicht gegeben. Es hing an der Pinnwand in deiner Küche.“
„Zweite Frage. Vor vielen Jahren habe ich mich in eine Frau verliebt, die du auch kennst. Sie wollte mich nicht. Wie hieß sie, wen hat sie geheiratet und was macht sie heute?“
Ich spürte fast, wie das Blut mein Gesicht verließ. Meine Lippen wurden kalt und meine Kopfhaut begann zu kribbeln. Was sollte diese Frage?
„Sie hieß Sarah Bender“, sagte ich, sehr, sehr leise. „Sie hat mich geheiratet. Und sie ist tot.“
„Es tut mir leid. Aber ich wollte sichergehen.“
„Dass Sarah und ich verheiratet waren, weiß die halbe Welt. Und das andere auch.“
„Ja“, sagte Mark, „aber dass ich auch was von ihr wollte, wissen nur wir beide. Außerdem ging es mir mehr um deine Reaktion.“
Ich holte tief Luft und unterdrückte den Versuch, ins Telefon zu brüllen.
„Es tut mir wirklich leid“, beschwichtigte er. „Aber jetzt glaube ich dir. Warum rufst du an?“
„Ich bin nicht da, wo wir uns zuletzt gesehen haben.“
Ein Moment Stille.
„Wie bitte?“
„Ich bin … draußen.“
Jetzt war es an ihm, tief Luft zu holen. „Was? Wie das?“
„Ist nicht so wichtig. Wirst du mir helfen?“
„Natürlich.“ Sofort, ohne Zögern. „Was brauchst du?“
Was brauchte ich? „Alles, eigentlich.“
„Okay, am besten wir treffen uns. Hier in Köln. Kannst du nach Köln kommen?“
„Ich denke schon.“
„Kennst du das Jameson’s noch?“
„Ja.“
„18 Uhr. Hinten durch. Mann Gottes, du hast verdammtes Glück, dass ich heute überhaupt hier bin. Sieh zu, dass dich keiner erkennt. Wenn das, was du sagst, stimmt, sind bald alle hinter dir her.“
„Ich weiß.“
„Viel Glück. Wir sehen uns heute Abend.“
„Mark?“
„Ja?“
„Kann ich dir vertrauen?“
„Du wirst mir vertrauen müssen, oder?“
„Ja. Aber komm alleine.“
„Natürlich. Bis heute Abend.“
Er hängte auf.
Er fuhr eine Weile über Autobahnen und Landstraßen. Er suchte, ohne Hast. Wenn es so weit war, würde er es merken. Sein Gefühl leitete ihn – kalt, kalt, warm, wärmer. Irgendwann wusste er, dass diese Ausfahrt die richtige war. Er verließ die Autobahn und fuhr an Wald vorbei, passierte ein paar Häuser, dann wieder ein Stück Landstraße, die zu einer Ortsdurchfahrt wurde. An einer Kreuzung prüfte er kurz schnuppernd die Luft und bog links ab. Vorbei an einer Fußgängerzone, über eine Brücke und an einem Park entlang führte sein Weg ihn wieder aus dem Ort heraus. Er fuhr an ein paar einzeln stehenden Häusern, Gehöften und dem unvermeidlichen Gasthof vorbei, bis er in der Ferne etwas sah, das ihn anzog. Heiß.
Er bog von der Straße ab in eine ungepflegte Allee und blieb an deren Ende vor einem großen, eisernen Tor stehen.
Das war es. Perfekt.
Er stieg aus und prüfte das Tor. Es war rostig, aber solide, verschlossen mit einer Kette. Er wollte gerade das Vorhängeschloss entfernen, als er von hinten angesprochen wurde.
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