„Das geht nicht. Ich kann sie nicht …“
„Haben Sie Familie, Doktor?“
Er starrte mich an. Seine Augen weiteten sich. Ich lächelte und bewunderte mich für meine Geduld. Langsam wurde die Zeit knapp, das roch ich.
„Was?“
„Noch mal: Sie geben mir den Schlüssel. Dann nehmen Sie diesen Trottel da und vergessen einfach, dass wir uns getroffen haben.“
Er sagte gar nichts. Ich schaute ihn – wie ich hoffte – ernst und freundschaftlich an. Seine Unterlippe begann zu zittern, er versuchte, meinem Blick auszuweichen, aber ich drehte seinen Kopf zurück.
„Ich komme hier alleine raus“, sagte ich leise. „Das wissen Sie, oder? Also ersparen Sie sich das und geben Sie mir den Schlüssel. Dann verschwinden Sie durch den Notausgang dahinten und Sie sind mich los. Haben Sie das verstanden?“
Er versuchte zu nicken. Ich ließ sein Kinn los und streckte meine Hand aus. Er legte seinen Generalschlüssel hinein.
„Gut. Und jetzt weg. Schnell!“
Er drehte sich mit einem Wimmern um, stolperte zu dem immer noch träumenden Pfleger, zog ihn sich halb auf die Schulter und taumelte durch den Gang davon. Ich schaute ihm lächelnd nach.
Ich lief schnell um die Biegung, den Flur entlang zum Treppenhaus und nach unten. Das Feuer war jetzt sehr nah, aber ich wollte nicht völlig unvorbereitet nach draußen, und vor allem nicht durch die Haupttür. Also lief ich zum Aufenthaltsraum der Pfleger. Irgendein umsichtiger Mensch hatte ihn verschlossen, als das Personal evakuiert wurde, aber ich hatte ja meinen Generalschlüssel. Ich war auf Ärger gefasst, aber hier war niemand mehr. Gut, ich hatte nicht mehr viel Zeit zu verschwenden. Die nächste Diskussion wäre kürzer verlaufen. Ich sah mich schnell in dem Raum um und fand, was ich suchte – die Kaffeekasse, ein geblümtes Sparschwein, schlecht versteckt in einem offenen Schrank. Viel konnte nicht drin sein, wenn sie sich nicht die Zeit genommen hatten, es mitzunehmen. Ich zerschlug es an einer Ecke des großen Tisches und schalt mich im nächsten Moment einen Idioten, als das Geld auf den Boden fiel. Ich trug nur Shorts und T-Shirt, kein Platz für Münzen, ich hätte besser die ganze Kasse mitgenommen. Auf meine Dummheit fluchend suchte ich auf Händen und Knien nach Scheinen und fand fünfzig Euro. Ich stopfte sie unter den Bund der Shorts, besser als nichts. Die Fenster hier unten waren die einzigen, die nicht aus Sicherheitsglas bestanden. Ich nahm einen Besen, schlug die Scheibe ein, stieg aus dem Fenster, lief ein kurzes Stück, verbarg mich in einem Gebüsch und sah mich um. Gut, dass ich nicht durch die Tür gegangen war, dort standen Menschen. Die hätten wieder Zeit gekostet.
Ich hörte Sirenen, Blaulicht flackerte ganz in der Nähe. Der Rauch zog näher, aus einigen Fenstern des Südflügels schlugen Flammen. Von dort hörte ich auch Stimmengewirr. Ich setzte mich vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung ab, bis ich zu einem kleinen Parkplatz kam, der einen Teil des Nordflügels abgrenzte. Im zweiten Stock sah ich eine offene Tür über der Feuertreppe, der gute Doktor hatte meinen Rat offenbar beherzigt. Ich hoffte, dass mein kleiner Hinweis auf seine Lieben genügt hatte, ihm die Idee, mich zu suchen, zu vergällen. Immerhin – hier war kein Mensch zu sehen, und nichts deutete darauf hin, dass irgendjemand sich im Moment für mich und meinen Verbleib interessierte.
Ich überquerte schnell den Parkplatz. Wenige Autos standen hier, vermutlich nur Personal. Ich kletterte auf das Dach eines Mondeo, der direkt unter der Mauer stand, sprang hoch, bekam die Mauerkrone zu fassen, zog mich hinauf, schwang mich auf der anderen Seite wieder hinunter und sah mich noch einmal um – nichts als das Blaulicht der Feuerwehrwagen in beruhigender Entfernung. Ich setzte über die Straße, ließ mich in den Straßengraben fallen und wunderte mich, dass es so einfach gegangen war.
Unter der Mauer, im Schatten eines Gebüsches, standen zwei kleine Gestalten. Der Flüchtende hatte sie nicht bemerkt, obwohl er nur wenige Meter von ihnen entfernt hinuntergesprungen war. Sie sahen ihm nach, wie er aus dem Graben krabbelte und in der Dunkelheit der angrenzenden Bäume verschwand.
„Nun ist er frei“, sagte eines der kleinen Wesen tonlos.
In der Stimme des anderen war ein Anflug eines Gefühls zu erkennen. Befriedigung.
„Das war nicht schwer.“
Hand in Hand verließen die Kinder die Stätte des Brandes.
Notiz Erin Simpsons für Christian Gerricke, 17. Juli
(gefunden auf der leeren Seite des Bettes)
Chris
Doch, es ist aus. Während du neben mir geschnarcht hast, habe ich mal wieder nicht geschlafen, aber über die letzten sieben Monate nachgedacht.
Tut mir leid, ich habe keine Lust, mir deinen ganzen Mist noch mal anzuhören.
Deshalb haue ich jetzt ab. Du wirst finden, dass ich nicht mehr in meiner Wohnung bin. Ich gehe zu einer Freundin (nein, du kennst sie nicht, du kennst ja keine von meinen Freundinnen). Und dann gehe ich zurück nach Hause.
Hast du gewusst, dass du grinst, wenn du schnarchst?
FUCK YOU
Erin
Er erwachte mitten in der Nacht.
Viele Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ein zu Tode geängstigter Arzt gerade in Augen blickte, in denen er Wahnsinn zu sehen glaubte.
Viele Kilometer von einem anderen Ort entfernt, an dem eine junge Frau gerade mit grimmiger Entschlossenheit im Blick und einer Sporttasche über der Schulter die Tür eines Mietshauses hinter sich zufallen ließ.
Etwas war anders. Etwas beunruhigte ihn. Er versuchte zu ergründen, was es war, sandte seine Gedanken aus und fand nichts. Aber etwas stimmte nicht. Er erhob sich. War er zu träge gewesen?
Er hatte geglaubt, er habe Zeit. Aber jetzt hatte er das Gefühl, dass er womöglich einen Fehler gemacht hatte. Wieder. Er zögerte eine Weile, aber er wusste, was er zu tun hatte. Wenn er nur gewusst hätte, warum.
Er wühlte in einer Kiste, und jeder, der einen zufälligen Blick durch das Fenster des Wohnwagens geworfen hätte, hätte geglaubt, dort einen arg heruntergekommenen Mann zu sehen, der planlos suchte. Die Tarnung war so sehr seine zweite Natur geworden, dass er nie davon abließ. Aber auch daran würde sich etwas ändern müssen. Wenn seine Befürchtung zutraf. Er holte die Kugel aus der Kiste und rieb einmal behutsam mit einem Zipfel seines T-Shirts darüber. Nicht, dass das irgendwie nötig oder von Bedeutung gewesen wäre, er hatte es sich nur im Laufe der Zeit angewöhnt. Es half ihm, sich zu konzentrieren.
Er setzte sich auf die schmutzige Matratze, schlug die Beine unter und legte die Kugel vorsichtig vor sich ab. Er versenkte sich in ihre Dunkelheit. Nach einer Weile glaubte er, das Heer zu sehen, viele Männer, die stumm und reglos seinen Blick erwiderten. Dann erschien hinter den Reihen etwas anderes. Etwas Rotes.
Er beugte sein Haupt und betete es an.
„Meister.“
Dann lauschte er. Antwortete. Lauschte wieder. Antwortete. Lauschte. Antwortete.
Später legte er die Kugel – nun wieder eine völlig klare Glaskugel – zurück in die Kiste. Dann zog er das schmuddelige T-Shirt und die fleckige Unterhose aus, ging in die Duschkabine des Wohnwagens und duschte zum ersten Mal seit Monaten. Er duschte lange. Er verließ die Kabine. Und während das Wasser schnell an seinem Körper trocknete, begann er sich zu rasieren, und das dauerte lange. Aber danach sah er so glatt und rosig aus und duftete so angenehm dezent nach Aftershave, dass niemand sich den struppigen Bart hätte vorstellen können, der noch vor kurzer Zeit in seinem Gesicht gewuchert hatte. Mit geschlossenen Augen, eine einfache Melodie summend, schnitt er freihändig seine üppige Haarpracht, bis aus der wilden Mähne eine gefällige Kurzhaarfrisur geworden war. Dann griff er in den Schrank und förderte neben weißer, frischer Unterwäsche eine sportliche, graue Baumwollhose, ein ebenfalls graues Polohemd, einen blauen Blazer, ein paar blaue Socken und helle Leinenschuhe zutage. Er zog sich rasch, aber ohne Hast, an. Aus einer Schublade kramte er eine Brieftasche und mehrere Kreditkarten, dazu etwa zehntausend Euro in bar und einen Autoschlüssel. Nach einem kurzen Moment des Überlegens legte er den Autoschlüssel wieder zurück, kramte noch ein wenig und wählte einen anderen. Er zog eine Reisetasche aus weichem Leder aus dem Schrank und füllte sie schnell mit Kleidungsstücken. Zuletzt nahm er die Kugel aus der Kiste, legte sie obenauf, schloss die Tasche und verließ den Wohnwagen, ohne sich umzublicken. Immer noch die Melodie summend ließ er den heruntergekommenen Campingplatz hinter sich, ging eine Zeitlang über Waldwege und kam dann zu einer Straße, der er folgte, bis er einen Parkplatz erreichte. Inzwischen dämmerte es. Er stieg in einen nachtblauen Volvo und fuhr davon.
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