Wie viele seiner Kollegen hatte Morgenstern es sich zur Angewohnheit gemacht, ab und an unaufgeklärte Verbrechen aus der Vergangenheit zu bearbeiten. Die sogenannten kalten Fälle ließen ihm keine Ruhe. Routinemäßig hatte er einen Datenabgleich genetischer Fremdspuren vorgenommen, die an unterschiedlichen Tatorten gefunden worden waren. Dabei hatte plötzlich der Bildschirm aufgeleuchtet. Ein Mann war schon zweimal in Erscheinung getreten. Zwar war er nicht als Täter registriert, aber als eine jener Personen, die durch ihre Anwesenheit den Tatort mit DNA verschmutzt hatten. In beiden Fällen war eine Rentnerin erdrosselt worden. Das hatte ihn auf die Spur des Mörders gebracht.
Aber nun war Wochenende. Anna wartete auf ihn. Sie würde es nicht dulden, dass er auch nur einen einzigen Gedanken an irgendwelche Ermittlungen verschwendete.
Die Anzahl der Wartenden vor dem Bäcker war überschaubar. Wie immer zog er eine Sonntagsausgabe aus dem Zeitungsständer, um die aktuellen Fußballergebnisse zu studieren, und stellte sich ans Ende der Schlange.
Die wenigen Minuten, die er warten musste, gehörten genauso zu seinen liebgewordenen Gewohnheiten wie das Studium der Spielberichte.
Den überwiegenden Teil der Zeitung überließ er Anna, die sich stets eingehend mit politischen Analysen und Berichten über Wirtschaftsentwicklungen beschäftigte. Sie liebte es, selbst wenn es warm war, mit einer Decke um die Beine geschlagen am Frühstückstisch zu sitzen und zu lesen. Ohne ihn anzusehen, äußerte sie dabei regelmäßig ihr Erstaunen oder Missfallen. Sie erwartete, dass er zuhörte, nicht, dass er ihre Bemerkungen ausführlich kommentierte. Mehr als einer kurzen verbalen Kenntnisnahme wie »So«, »Aha« oder »Tatsächlich« bedurfte es nicht.
Vom ersten gemeinsamen Wochenende an zelebrierten sie, sooft es Morgenstern möglich war, den Sonntagmorgen. Genau genommen, hatte Anna ihn zum Zeremonienmeister ernannt, der den Frühstückstisch einzudecken hatte. Sobald alles vorbereitet war, ließ sie sich sanft wecken. Dann setzte sie sich mit einem glücklichen Lächeln erwartungsvoll auf ihren Lieblingsplatz. Mit kindlicher Begeisterung wunderte sie sich über die frischen Schrippen, schnupperte an der Kaffeekanne und prüfte die Wärme des Frühstückseis. Anschließend küsste sie ihn und streckte ihm wortlos ihre Tasse entgegen. Sie genoss die Sonne, die im Juni beinah eine Stunde lang durchs Fenster schien, bevor sie hinter der Dachecke verschwand. Tatsächlich war es in diesem Jahr ungewöhnlich heiß für Anfang Juni. Auf Morgensterns Behauptung, dass es sich bei dieser Hitzewelle um den Sommer handle, hatte Anna mit gekreuzten Zeigefingern und den Worten »Teufel, weiche von dannen!« reagiert.
Morgenstern lächelte bei dem Gedanken an Anna und bemerkte erst, als jemand sich laut räusperte, dass der Abstand zu seinem Vordermann unverhältnismäßig groß geworden war. Er reagierte nicht darauf, überflog stattdessen erneut die Überschriften einzelner Artikel und faltete anschließend fast pedantisch die Zeitung in ein übersichtlicheres Format. Dann schloss er langsam auf.
Ein paar Mütter schoben ihre Kinderwagen nebeneinander über den Bürgersteig. Offensichtlich waren sie auf dem Weg zum Spielplatz. Rücksicht auf andere Passanten nahmen sie nicht. Diese wurden genötigt, sich an die Hauswand zu drängen oder zwischen den parkenden Autos zu warten, bis der Weg wieder freigegeben war. Fast schien die Lage zu eskalieren, als den energisch voranschreitenden Müttern ein Fahrradfahrer entgegenkam und abrupt bremsen musste. Es gab keine Lücke, um sich durch die bedrohliche Formation des Kampfgeschwaders Helmholtzkiez zu zwängen. Wütende Worte wurden gewechselt. Lattemacchiato-Mamas gegen Fahrradrowdys – ein typisches Prenzelberger Geplänkel. Morgenstern beobachtete eine Weile amüsiert das Geschehen.
Kurz bevor er der Verkäuferin den Leinenbeutel über den Tresen reichen konnte, begann sein Handy zu klingeln. Verwundert starrte er auf den Namen, der auf dem Display erschien. Es musste wichtig sein, wenn ihn der Chef des Landeskriminalamts 1, Max Herting, an einem Sonntagmorgen anrief.
° ° °
Das Foto zeigte eine nachdenkliche Frau mittleren Alters. Es sah etwas mitgenommen aus. Die Ecken und Ränder waren angestoßen, die Farben verblasst. Der beim Falten entstandene Knick hatte das Bild in der Mitte geteilt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatte der Wind das schulterlange Haar der Frau zerzaust, und ihre rechte Hand versuchte hilflos, dem Chaos ein wenig Ordnung aufzuzwingen. Müde und vorwurfsvoll starrten ihre Augen in seine Richtung.
Die Frau stand vor einem geschlossenen Kiosk, der im Sommer exotische Eissorten anbot. Sie mochte am liebsten Cassis und Stracciatella. Nur diese Sorten hatte sie akzeptiert. Egal, wie lang die Schlange vor dem Kiosk gewesen war, für sie hatte er sich gern angestellt, obwohl er selbst kein Eis aß. Meist hatte sie auf einer Bank gewartet und auf das Meer hinausgeschaut. Sie hatte es genossen, wenn der Sommerwind ihr ins Gesicht blies. Das war in den guten Zeiten gewesen.
Nachdenklich betrachtete der Mann erneut das Foto. Es erschreckte ihn, dass die Erinnerungen zunehmend blasser wurden. Beinahe vier Jahre war es her, dass er die Aufnahme gemacht hatte. Auf der Rückseite stand mit Bleistift geschrieben: Ostseebad Sellin, Oktober 2010.
Ihre Enttäuschung in jenem Herbst war groß gewesen, als sie an dem Kiosk, dessen Fassade mit aufgemalten blauen Muscheln, lustigen Fischen und Seesternen geschmückt war, einen Zettel entdeckt hatte. Die Inhaber hatten sich bis zum Frühjahr von den Gästen verabschiedet. Aber das war nicht der eigentliche Grund ihrer Traurigkeit gewesen.
Obwohl sie energisch protestiert hatte, war es ihm gelungen, das Foto zu schießen. In jenem verfluchten Oktober.
Hier am Meer hatte er gehofft, die Ereignisse der vorangegangenen Wochen ein paar Tage vergessen zu können. Eine Illusion, wie sich später herausgestellt hatte. Sie waren stundenlang schweigend nebeneinander am Strand entlanggelaufen. Es war ihr letzter gemeinsamer Urlaub gewesen, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Zu jenem Zeitpunkt hatte der Mann nicht geahnt, dass es das letzte Foto war, das er von ihr machen würde.
»Dich traf keine Schuld! Wie konntest du das nur glauben?«, flüsterte er und strich mit dem Finger über ihr Gesicht. Vorsichtig faltete er das Foto seiner Frau zusammen. Dann schob er es sorgfältig zurück in die Brieftasche. Er starrte kurz auf den Wandkalender, um noch einmal das Datum zu prüfen. Nein, er irrte sich nicht. Heute war der letzte Tag, um ihm ein Zeichen zu geben. Schlurfend ging er in die Küche und goss sich einen Kaffee ein. Dann setzte er sich müde an den Küchentisch. Erneut durchblätterte er die aktuelle Ausgabe der Berliner Allgemeinen , ohne die erwartete Kontaktanzeige zu finden. Die Worte Liebe Susi, lass mich dein Strolch sein! fanden sich weder in der entsprechenden Rubrik noch an anderer Stelle.
Sie nahmen ihn nicht ernst. Sie hielten ihn für einen Spinner, der den Worten keine Taten folgen ließ. Aber jetzt war es mit seiner Geduld vorbei. Ihm lief die Zeit davon. Kaum zwei Monate blieben ihm noch.
Er stand auf und ging in den Keller. Nachdenklich zog er Gummihandschuhe an und betrachtete den Pappkarton auf dem Fußboden, der wohl zu klein bemessen war. So misslang auch der erste Versuch, den blauen Müllsack samt dem unförmigen Inhalt darin unterzubringen. Egal, wie er ihn drehte und wendete, etwas schaute immer heraus. Schließlich sah er ein, dass er entweder einen größeren Karton besorgen oder den Inhalt anpassen musste.
Wütend, dass nichts so klappte, wie er es sich gedacht hatte, tastete er mit seinen kräftigen Händen nach jenem sperrigen Ende in dem Müllsack, das nicht passen wollte. Es fühlte sich kalt an. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und verdrehte den Hinterlauf des Welpen, bis ein knackendes Geräusch verriet, dass das Gelenk gebrochen war.
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