Tobi sah seinen Freund an und schüttelte vehement den Kopf. »Wir haben gar nichts getrunken, es ist einfach nur sehr spät geworden. Ist bei Duncan alles klar? Wir haben eine Weile nicht gechattet.«
Leas Sohn studierte seit einem Jahr Landschaftsarchitektur und -planung an der Uni Kassel. »Es geht ihm gut. Er muss sich ordentlich ins Zeug legen, aber das macht ihm nichts aus. Vielleicht könnt ihr euch ja treffen, wenn er das nächste Mal hier ist. Sag mal, bist du eigentlich noch in der Theater-AG an der Schule?«
Duncan und Tobi waren der AG Theater und Musik in der neunten Klasse beigetreten. Tobi war jetzt im dritten Semester der Oberstufe. Er nickte. »Ja, wir proben Der zerbrochne Krug. Die Aufführung ist in drei Wochen.«
»Kleist«, freute sich Lea. »Das Stück habe ich während des Studiums auch mal gelesen. Welche Rolle hast du?«
Nicht ohne Stolz erwiderte Tobi: »Ich spiele den Richter.«
» Mir träumte, es hätt’ ein Kläger mich ergriffen «, zitierte Lea. »Ich bin beeindruckt. Und dein Freund hier, ist der auch dabei?«
Der junge Mann schien plötzlich wie verwandelt. Er legte ein strahlendes Lächeln auf, trat einen Schritt auf Lea zu und gab ihr die Hand. »Entschuldigen Sie, wie unhöflich von mir! Ich bin Leander Horten. Tobi und ich haben zusammen die Leistungskurse Mathe und Sport. In dem Stück spiele ich auch mit. Ich gebe den Licht.«
»Lea Storm.« Junge Männer mit Manieren, wie angenehm!
Tobi schaute auf seine Uhr. »Wir müssen weiter, Frau Storm. An diesem Wochenende findet das Bouleturnier der Oberstufe statt. Wir spielen nachher im Park an der Bäkestraße und sollten bis dahin wieder fit sein. Duncan wird mir bei dem Turnier fehlen, Leander ist nicht annähernd so ein guter Spieler wie er. Noch mal sorry für den Schreck! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Bis bald!« Tobi zog seinen Freund an der Jeansjacke. Dem passte die Bemerkung über sein schlechtes Boulespiel sichtlich ganz und gar nicht, aber er sagte nichts, und die beiden stiegen wieder auf ihre Räder.
»Mach’s gut, Tobi, bis bald!« Lea sah den Jungs einen Moment lang nach. Sie diskutierten heftig miteinander, entfernten sich aber so schnell, dass Lea nichts verstehen konnte. Tobi hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wirkte älter. Nein, er wirkte härter. Aber der Junge hatte es auch nicht leicht.
Während ihres anschließenden Laufs ließ sich Lea das Gespräch mit den beiden jungen Männern noch einmal durch den Kopf gehen. Tobi hatte nervös gewirkt, vermutlich hatte er ein schlechtes Gewissen seinen Eltern gegenüber. Lea wusste, dass die sich sehr um ihre beiden Kinder sorgten. Sie zog das Tempo an. Schließlich hatte sie ein ausgesprochen attraktives Ziel.
Tara Berthold war zu erschöpft, um weiter zu schreien. Ihr Hals schmerzte, und sie hatte Durst. Erneut schaltete sie die Taschenlampe ein und leuchtete ihre Umgebung aus. Sie befand sich in einem Keller mit einer Klappe an der Decke. Tara versuchte, die Klappe zu erreichen, aber die lag zu hoch. Es gab auch nichts, worauf sie sich hätte stellen können, der Raum war völlig leer. Was, um Himmels willen, war denn nur mit ihr passiert? Tara hatte immer noch keine Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen war. Von ihren Schläfen ausgehend hämmerte ein pochender Schmerz die Schädeldecke entlang, und ihr Magen fühlte sich wund und hohl an. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, oder gar, welcher Tag, konnte also auch nicht wissen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Sie lehnte sich gegen die nackte Steinwand und begann, mit leiser Stimme Schillers Lied von der Glocke aufzusagen:
Fest gemauert in der Erden
Steht die Form aus Lehm gebrannt.
Heute muss die Glocke werden!
Frisch, Gesellen, seid zur Hand!
Von der Stirne heiß
Rinnen muss der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben;
Doch der Segen kommt von oben.
Lea hatte nach ihrem Lauf die Dusche neben der Sauna im Keller benutzt, um Glander nicht zu wecken. Sie war gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten, als ihr Handy vibrierte. Für einen Studenten war ihr Sohn am Wochenende ausgesprochen früh wach, stellte sie fest, als sie auf ihr Display sah. » Hello, love! Bist du aus dem Bett gefallen?« Duncan war zweisprachig aufgewachsen, wie seine Eltern. Marks Vater war Engländer gewesen – ein Soldat, der zu viel trank und seine Familie sitzenließ. Wenn sie unter sich waren, unterhielten sich Lea und ihr Sohn in einem bunten Gemisch aus beiden Sprachen.
» Hi, mum! Vielleicht sind wir ja gerade erst nach Hause gekommen …«, erwiderte Duncan mit geheimnisvoller Stimme.
»Wir? Das heißt, du bist in Begleitung der lovely Nina ?«
Jetzt lachte Leas Sohn laut. »Mama, dir kann man ja normalerweise nicht viel vormachen, aber diesmal liegst du falsch. Ich muss für eine Klausur lernen und bin schon seit sechs Uhr auf den Beinen. The early bird, the worm – du weißt ja.«
»Welchen Wurm hoffst du früher Vogel denn zu fangen?«
»Ökologische Grundlagen der Umweltplanung.«
»Zweifelsohne ein ganz packendes Thema. Kommst du gut voran?«
»Na ja, es geht so, aber ich habe noch das ganze Wochenende, das wird schon.«
»Ich habe vorhin Tobi mit einem Freund getroffen. Die beiden sahen ganz schön fertig aus.«
»Wirklich? Dabei trinkt Tobi nur ganz selten einen über den Durst. Er darf doch nicht viel Alkohol trinken wegen des Ritalins. Ich werde ihn mal wieder bei Facebook anstupsen. Mum , ich wollte dich fragen, ob Nina und ich am nächsten Wochenende nach Berlin kommen können.«
Lea kamen die Details wieder in Erinnerung. Tobi hatte in der neunten Klasse arge Probleme bekommen. Ein Tadel jagte den nächsten, und irgendwann stand er kurz vor dem Schulverweis, nachdem er die Turnhalle mit Graffiti dekoriert hatte. Alle dachten damals, der ohnehin als Klassenclown bekannte Junge sei einfach nur pubertär und ungezogen. Es hatte über ein Jahr gedauert, bis die Diagnose ADHS gestellt wurde. Tobi hatte das Schuljahr wiederholen müssen. Er trieb seitdem regelmäßig und mit großem Eifer Sport und hatte vor Beginn der Oberstufe noch ein Jahr auf einer Schule in England verbracht, um seine miserablen Englischkenntnisse zu verbessern. Beinahe hätte Lea Duncans Frage ignoriert, dabei wartete sie schon seit ein paar Monaten darauf, seine Freundin Nina kennenzulernen, eine Kommilitonin aus Hamburg. »Klar, ihr seid hier jederzeit willkommen. Dann kannst du mir Nina endlich vorstellen. Und ich dir Glander.«
»Ahhh, den Herrn Kriminalhauptkommissar!«
» Not anymore. Ex-Kommissar. Jetzt ist er Chef der Detektei Celik & Glander.«
» Whatever , ich bin sehr gespannt auf ihn.« Duncan zögerte kurz und fragte dann: »Bist du verliebt?«
Lea betrachtete sich im Flurspiegel: Ihre graugrünen Augen leuchteten, ihr kastanienbraunes Haar glänzte, und ein Dauerlächeln zierte ihr Gesicht. Sie fühlte sich rundum phantastisch, daran bestand kein Zweifel. »Ja, Schatz, ich bin verliebt.« Überraschend, bis über beide Ohren und mit einer Menge Schmetterlingen im Bauch.
Duncan lachte wieder und sang den alten Hit von Madness an: » It must be love, love, love … Auweia, das kann ja ganz schön kitschig werden mit uns vieren!«
»Ich befürchte auch, darling , wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.«
Sie prusteten beide los, und Duncan verabschiedete sich. Er wollte mit Nina am Freitagabend eintreffen, und sie würden alle zusammen essen.
Lea summte das Lied weiter und wusste, sie würde den ganzen Tag Mühe haben, diesen Ohrwurm wieder loszuwerden.
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