Wolfgang Kirchner - Wenn alles in Scherben fällt

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Seit in der Ost-Ukraine geschossen und getötet wird, ist alles Leid wieder präsent, das Millionen Deutsche bei Kriegsende 1945 im Osten erlitten. Seit Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten in unser Land fluten, werden wir an das Schicksal deutscher Flüchtlinge erinnert, die am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren. Traumatisiert mussten sie sich in oft feindseliger Umgebung eine neue Existenz schaffen. Kinder sind die Leidtragenden, damals wie heute. – Ein autobiografischer Bericht vom Überleben in schlechten Zeiten.

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Wolfgang Kirchner

Wenn alles in Scherben fällt

Vom Überleben in schlechten Zeiten

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Inhaltsverzeichnis Titel Wolfgang Kirchner Wenn alles in Scherben fällt Vom - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Wolfgang Kirchner Wenn alles in Scherben fällt Vom Überleben in schlechten Zeiten Dieses ebook wurde erstellt bei

Widmung Widmung Für meinem Bruder Detlef

Erweitertes Impressum Erweitertes Impressum Dies ist die Neufassung eines Buches, das unter dem Titel „Wir durften nichts davon wissen“ bei Rowohlt in der Reihe „Rotfuchs“ (Auflage: 55.000) erschien. © Wolfgang Kirchner 2015 Wolfgang Kirchner Bayerische Str. 8 10707 Berlin wolfkirchner@mac.com Coverillustration: Philipp Süchting p-suechting@T-Online.de Dank an Klaus Ratje!

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Widmung

Für meinem Bruder Detlef

Erweitertes Impressum

Dies ist die Neufassung eines Buches, das unter dem Titel „Wir durften nichts davon wissen“ bei Rowohlt in der Reihe „Rotfuchs“ (Auflage: 55.000) erschien.

© Wolfgang Kirchner 2015

Wolfgang Kirchner

Bayerische Str. 8

10707 Berlin

wolfkirchner@mac.com

Coverillustration:

Philipp Süchting

p-suechting@T-Online.de

Dank an Klaus Ratje!

1.

„Palmsonntag, den 25. März…“

Mama sitzt im Luftschutzkeller am Tisch und schreibt Tagebuch. Eine Stalllaterne wirft flackerndes Licht auf den dicken Kalender, in den sie mit winziger, krakeliger Schrift Eintragungen macht. Ab und zu spitzt sie den Bleistift, damit die Buchstaben dünn bleiben und so viel wie möglich auf eine Seite geht. Denn es gibt viel zu erzählen.

„Freitag hat sich die Waffen-SS in unserem Haus einquartiert“, schreibt meine Mutter. „Sie sind mit zwei Raupenfahrzeugen gekommen, die haben sie in unseren Garten gefahren und dabei den Mirabellenbaum beschädigt. Die Fahrzeuge wurden bis zu den Ketten eingegraben und mit Tarnnetzen bespannt. In unserer Küche haben sie eine Funkstation eingerichtet. Klara muss jetzt auf dem Ofen in der Waschküche das Essen für uns alle kochen. Klara ist wütend auf die SS. Bei jedem Fliegerangriff kommen sie zu uns herunter.“

Ich sitze neben Mama und schaue ihr beim Schreiben zu. „Leg dich auf die Matratze unterm Tisch“, sagt sie. Später, als sie müde wird, muss ich ein wenig rücken, und sie legt sich neben mich. Wir hören das Poltern der Soldatenstiefel über uns, die fernen Abschüsse und nahen Einschläge der Granaten. Wenn es besonders laut kracht, schrecken meine jüngeren Geschwister aus dem Schlaf hoch, und aus der dunklen Ecke nahe dem Notausgang höre ich Großvater stöhnen. Der fünfzehnjährige Achim, mein ältester Bruder, liegt neben der Tür zur Waschküche und liest im Schein einer Kerze ein Buch. Wenn die Kleinen aufschrecken und sich gleich darauf schlaftrunken wieder fallen lassen, deckt er sie behutsam zu. Er lauscht auf den Artillerielärm, und sein Kopf geht mit, als folge er der Geschossbahn.

„Die Russen stehen auf den Danziger Höhen und schießen in die Stadt hinein – über uns hinweg!“ sagt er beruhigend.

Wir wohnen in einem Vorort von Danzig, der Langfuhr heißt, auf der ‚besseren’, der Villenseite von Langfuhr, am Rand des Jäschkentaler Waldes. Hier stehen viele prunkvolle Häuser, umgeben von großen Gärten. Unsere Villa ist ein Haus mit vielen Erkern, Türmchen mit Steinkugeln obendrauf, mit Balkons und Terrassen. Jetzt sind die meisten Fenster ohne Glas, und die Jalousien hängen schief herab: Der Luftdruck einer Bombe, die im Haus nebenan eingeschlagen ist, hat die Scheiben zum Platzen gebracht. Seit diesem Tag stehen die elf Zimmer unseres Hauses leer; seitdem trauen wir uns nicht mehr aus dem Luftschutzkeller.

Ehe ich einschlafe, schaue ich mich im halbdunklen Keller um. Diti, mein zweitältester Bruder, ist wieder mal nicht da. Papa hat uns verboten, nachts und besonders bei Artilleriebeschuss hinauszugehen. Aber der dreizehnjährige Diti lässt sich nichts mehr verbieten. Wahrscheinlich sitzt er auf der Treppe, die von der Waschküche in den Garten führt, und raucht heimlich eine Zigarette. Ich bewundere ihn, weil er so mutig ist. Ich bin zehn Jahre alt und der Ängstlichste von allen, gelte als das ‚Muttersöhnchen’.

Im Halbschlaf höre ich Ditis Stimme: „Ich weiß, was die Raupen geladen haben…“

Ich wache auf. Diti beugt sich über unsere Mutter und flüstert, damit Vater nicht aufwacht: „In der einen Raupe sind Maschinengewehre, funkelnagelneu, in Holzkisten, und Munition…“

„Deswegen weckst du mich?“ fragt Mama.

“Und in der anderen Raupe sind Brote! Nichts wie Brote! Eckige, schwarze Soldatenbrote, hart wie Ziegelsteine.“

“Kommissbrote?“ Meine Mutter fährt hoch. Vorsichtig kriecht sie unter dem Tisch hervor, ich krieche hinter ihr her. Sie beugt sich über Frau Duschau, unsere Nachbarin. Seit der Angriff der Roten Armee auf Danzig begonnen hat, wohnt sie mit ihren sechs Kindern bei uns im Luftschutzkeller.

Frau Duschau schreckt aus dem Schlaf auf: „Sind die Russen da?“

Meine Mutter macht ihr ein Zeichen mitzukommen. Auch Achim folgt uns.

In der Waschküche sitzt Klara und stopft unsere Strümpfe. Klara stammt aus Polen. Sie kam in unsere Familie, kurz bevor Achim geboren wurde. Nun ist sie schon über fünfzehn Jahre bei uns, hat uns alle sechs als Babys auf dem Arm gehabt, hat fünfzehn Jahre lang für uns gekocht, geputzt und gewaschen. Hitlers Untergang hat sie schon 1939 vorausgesagt. Aber dass wir alle auf dem besten Weg sind, mit Hitler unterzugehen, hat selbst sie nicht geahnt.

Sie legt das Stopfzeug beiseite und steht auf. „Hört euch das an!“ sagt sie. „Die feiern oben und saufen sich Mut an!“ Sie meint die SS-Männer.

Diti öffnet vorsichtig die Waschküchentür, nachdem wir das Licht gelöscht haben. Er schaut hinaus in den dunklen Garten.

„Feuerpause!“ flüstert er und springt die Stufen der Kellertreppe hinauf; wir folgen ihm. An einem der Raupenfahrzeuge klettert er hoch, zwängt sich unter die Plane und reicht Klara ein Brot nach dem anderen herunter. Klara reicht es mir, ich reiche es meiner Mutter, die reicht es Frau Duschau, die reicht es Achim. Der stapelt die Brote an der Kellerwand hoch wie Brennholz – eine Wand aus Brot. Die SS-Männer merken nichts. Wir hören ihr Gelächter. Einer grölt betrunken. Während sie Nazilieder singen, klauen wir ihnen die Marschverpflegung für ihre Flucht – denn das hat Diti schon herausgekriegt: Zum Kämpfen ist diese Einheit sich zu schade. Ins Reich wollen sie sich absetzen.

Ich zittere in der frischen Nachtluft, während mir ein Brot nach dem anderen zugeworfen wird: Wenn die SS dahinterkommt, werden sie uns alle erschießen...

„So“, sagt Klara, „komm runter, Diti, ist genug! Von mir aus kann die SS jetzt abhauen!“

Im Keller hängen wir Decken über die Wand aus Brot. Nun ist es bei uns noch enger geworden. Klara setzt Wasser auf und kocht Tee. Keiner will sich schlafen legen. Wir hocken am Waschküchentisch, freuen uns über unsere Beute und malen uns aus, was für dumme Gesichter die SS-Männer machen werden, wenn sie nächstens Kohldampf schieben.

Da kommt mein Vater in die Waschküche. Er ist noch benommen vom Schlaf und fröstelt. „Warum seid ihr alle auf?“ Als erster kriegt er von Klara einen Becher Tee.

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