„Herr Oberschulrat, Sie müssen endlich dafür sorgen, dass die SS abzieht!“
“Aber Klara“, stöhnt Papa, „was kann ich gegen die SS tun?“
Klara lässt nicht locker: „Wenn die Russen kommen und in unserem Haus ist immer noch die SS, dann gnade uns Gott!“
Aber Papa ist ganz sicher: „Die Russen kommen nicht. Ich glaube es einfach nicht.“ Weil alle schweigen, wendet er sich, ein wenig unsicher geworden, an Achim: „Was meinst du?“
Achim guckt in seinen Teebecher. Egal, was er sagt, Papa würde seine Meinung nicht gelten lassen. Während des ganzen Krieges hörte Achim – was streng verboten war – ‚Feindsender’, BBC London und Radio Moskau. Papa durfte nichts davon erfahren. Kurz bevor in der ganzen Stadt der Strom ausfiel, hat Achim über Radio London gehört, dass ein Teil der Roten Armee längst an Danzig vorbeigezogen ist, auf dem Vormarsch nach Berlin schnell vorankommt und dass Danzig von einer hoffnungslos großen Übermacht der Russen belagert wird. Als im Januar die Rote Armee in Ostpreußen einfiel, wollte Papa seinem Ältesten nicht glauben, dass es mit dem ‚Großdeutschen Reich’ zu Ende geht. Während des ganzen Krieges hat in unserer Familie nur das gegolten, was Papa für richtig hielt.
„Und du, Diti?“ fragt Papa. “Du stromerst draußen herum - wie sieht die Lage aus, was meinst du?“
Diti zieht ein Flugblatt aus der Tasche und reicht es Papa über den Tisch. Er hat es im Garten gefunden. Russische Flugzeuge haben es abgeworfen.
„Junge“, sagt Papa erschrocken, „das darfst du gar nicht lesen! Das hättest du abgeben müssen…“
Er lauscht nach oben. Jeden Augenblick können SS-Männer herunterpoltern. Halblaut liest er vor: „Aufruf des Marschalls Rokossowski an die Garnisonen von Danzig und Gdingen! Generale, Offiziere und Soldaten der 2. deutschen Armee! Meine Truppen haben gestern am 23. März Zoppot genommen und die eingeschlossene Kräftegruppe in zwei Teile aufgespalten. Die Garnisonen von Danzig und Gdingen sind voneinander getrennt. Unsere Artillerie beschießt die Häfen von Danzig und Gdingen und die Einfahrten zu denselben. Der eherne Ring meiner Truppen um euch verengt sich immer mehr. Unter diesen Umständen ist euer Widerstand sinnlos und wird nur zu eurem Untergang sowie zum Untergang von Hunderttausenden Frauen, Kindern und Greisen führen…“
Wieder setzt draußen der Höllenlärm der Artillerie ein. Das Haus bebt. Das Flugblatt zittert in Papas Händen.
„Wer sich gefangen gibt“, sagt Papa mit einem bitteren, ungläubigen Unterton, „dem garantiert er das Leben und die Belassung des persönlichen Eigentums…“ Er schüttelt den Kopf. Leise liest er weiter: „Alle Offiziere und Soldaten, die die Waffen nicht strecken, werden bei dem bevorstehenden Sturm vernichtet. Euch wird die volle Verantwortung für die Opfer der Zivilbevölkerung treffen.“
Rasch knüllt er das Flugblatt zusammen und wirft es ins Feuer. „Kommt wieder in den Luftschutzkeller! Hier sind wir nicht sicher genug!“
Da keiner von uns aufsteht, bleibt auch Papa sitzen. Er schaut meine Mutter an. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn.
„Jetzt haben wir die Bescherung!“ sagt Mama zornig. „Und ihr habt damit angefangen! Ja, du auch! Ihr habt angefangen…!“
Als am 1. September 1939 in Danzig der Zweite Weltkrieg begann, war Papas Kompanie von der ersten Stunde an dabei. Papa war Hauptmann. Er führte seine Soldaten gegen die Polen – und siegte. Vor dem 1. September 1939 war Danzig eine Freie Stadt, mitten in polnischem Gebiet.
„Warum habt ihr die Polen aus Danzig vertrieben?“ Meine Mutter ist wütend – so habe ich sie noch nie mit Papa reden gehört. „Wir sind gut mit ihnen ausgekommen! Unsere Jungen waren mit ihnen in Sportvereinen zusammen, in den Schulen. Auf der Technischen Hochschule haben deutsche und polnische Studenten zusammen studiert, wir haben beim Polen gekauft… Und wie gut haben wir mit Klara gelebt, fünfzehn Jahre lang!“ Sie schweigt eine Weile, dann sagt sie leise: „Jetzt werden sie sich an uns rächen! Die Kinder werden es zu spüren kriegen.“
Papa findet, dass Mama übertreibt. Außerdem gäbe es geschichtliche Fakten, meint er. „Danzig ist deutsch, seit Jahrhunderten! Und dass wir damals, vor fünfundzwanzig Jahren, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, vom Deutschen Reich abgetrennt wurden, war ein unnatürlicher Zustand!“
Granaten fliegen übers Haus.
„Da musste es eines Tages wieder zum Krieg kommen…“ Wenig später fügt er, nicht mehr ganz so sicher, hinzu: „Die Polen wollten Danzig immer schon einkassieren...“
„Ach was!“ fährt meine Mutter ihm über den Mund. „Wir haben mit den Polen friedlich zusammengelebt. Wollten etwa unsere Verwandten in der Kaschubei, die Koschalkes, uns einkassieren? Wir kennen unsere Polen!“
Wegen des Geschützlärms spricht meine Mutter lauter, als es meinem Vater recht ist. Er zeigt nach oben. Aber meine Mutter kümmert sich nicht mehr um die SS-Männer. „Wie ihr bloß auf diesen Hitler hereinfallen konntet!“
Papa steht auf: „Kommt sofort in den Luftschutzkeller!“
Klara legt ihr Stopfzeug zusammen und ruft Papa nach: „Das eine sage ich noch: Die SS muss aus dem Haus, und zwar bald!“
Meine Mutter kann nicht schlafen und setzt sich wieder an ihr Tagebuch: „Zurzeit leben wir von den Vorräten, die wir vom Land mitgebracht und eingeweckt haben.“ Das Tagebuchschreiben scheint sie abzulenken, zu entspannen, scheint ihr die Angst zu nehmen. „Es gab eine Zeit, da wollten wir in unserer deutschen Beamtenfamilie von den ungebildeten, halb polnisch, halb deutsch radebrechenden Verwandten bei Karthaus nichts wissen. Doch je länger der Krieg dauerte, desto wichtiger wurde es, Verwandte auf dem Land zu haben. Immer öfter fuhren wir in die Kaschubei, halfen bei der Ernte und aßen uns satt. Ich tauschte Kleider gegen Hühner, die nahmen wir lebend nach Hause mit...“
Am nächsten Tag steht überraschend Fräulein Plasse, meine Lehrerin, am Kellereingang. Ein Wunder, dass sie lebend bei uns angekommen ist. Tiefflieger machen tagsüber Jagd auf jeden, der sich in den Straßen sehen lässt. Noch zitternd vor Angst hält Fräulein Plasse Mama eine große Speckseite entgegen und bettelt, wir sollen sie aufnehmen. Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Wir können uns im Luftschutzkeller kaum noch bewegen!“
Auch Klara ist dagegen. Sie hat meine Lehrerin nie leiden können. Denn Fräulein Plasse liebt den Führer. In der Schule schwärmte sie von Adolf Hitler: „Wenn kleine Mädchen den Führer auf dem Obersalzberg besuchen, lässt er ihnen Erdbeeren mit Schlagsahne reichen, selber aber isst er nur Erbsensuppe mit Speck!“
„Quatsch!“ schrie Klara immer, wenn ich ihr berichtete, was ich in der Schule gehört hatte. „Glaubt doch den Blödsinn nicht!“
Das letzte Mal besuchte Fräulein Plasse uns kurz vor Weihnachten. Bei der Begrüßung meckerte sie: „Fräulein Klara, Sie müssen darauf achten, dass die Kinder die Händchen schön hochheben, wenn sie ‚Heil Hitler’ sagen!“ Da wurde Klara giftig: „Wozu sollen sie das lernen? Bald wird der, den sie grüßen, sowieso nicht mehr da sein!“
„Jetzt, da ihr geliebter Führer die Karre in den Dreck gefahren hat“, schimpft Klara, „will sie bei uns unterkriechen! Nein!“
Aber mein Vater bestimmt: „Fräulein Plasse bleibt!“ Er fühlt sich für sie verantwortlich. Sie darf sich im Luftschutzkeller mit Vorhängen eine kleine Ecke abteilen. Da verkriecht sie sich, wenn Klara in der Nähe ist. Steckt Fräulein Plasse mal die Nase hervor, kriegt sie von Klara prompt zu hören: „Wir danken unserem Führer!“
Fräulein Plasse erträgt Klaras Sticheleien mit scheinheiliger Geduld. Hauptsache, sie ist in der Nähe der SS. „Die werden uns beschützen!“ sagt sie. Ihr Parteiabzeichen trägt sie nicht mehr auf dem Revers ihrer Kostümjacke.
Читать дальше