Ich ging zur Bushaltestelle, sah auf die Uhr meines Mobiltelefons: 0.57 Uhr! Verdammt, die letzte Bahn war weg. Ich besaß kein Ticket, was ich dem Busfahrer hätte zeigen können. Mein Geld war für das Bier und die Eintrittskarte draufgegangen. Taxi kam also auch nicht in Frage. Man könnte sich ja zur Bank aufmachen und … ach, drauf geschissen.
Ich rollte mir eine Zig und begab mich auf den Heimweg – zu Fuß, rauschend vor Gedanken, brennend vor Wörtern.
Ein bedeckter Himmel zeigte mir seinen Arsch, aber ich sah nur eine einzige Vagina darin.
Der Heimweg war ein eitriger Rattenschwanz. In mir glühte es noch und als ich mich zu Hause an meine Frau kuschelte, schoss mir das Blut in den Penis wie sonst nur das Sperma heraus. Es half ihr nichts zu schlafen. Ich weckte sie auf, gab keine großen Worte oder Zärtlichkeiten, bestieg sie und rammelte sie durch, versklavte sie.
Vor meinem inneren Auge flackerte hin und wieder Freitas Abbild auf und die Erinnerung und die Wirklichkeit verschmolzen in einem Wirbel aus Stöhnen und Schweiß.
Ein Tor tat sich auf und beinahe wäre ich hinübergestürzt; aber in diesem Moment kam es mir.
Was bist du nur für eine Kanaille, Pierretot? Du Drecksack, du Hure, deren Zuhälter deine Geilheit, deine Eitelkeit ist. Was kommt als nächstes? Lässt du dir von einem 80jährigen Konzertmeister einen blasen? Oder bläst du ihn?
Wenn du nicht schreiben würdest; aber die Wörter retten dich auch dieses Mal noch, treten für dich als Leumund auf. Dieses Mal vielleicht noch.
Schlaf jetzt. Gib deinem schlaffen Körper, der daliegt wie ein seniler Dudelsack, der vor-sich-hin-atmet in seiner belanglosen Hässlichkeit; gib ihm Schlaf; schlaf jetzt, Pierretot.
Grau war der Morgen. Ich erwachte auf dem Bauch, ein feuchter Fleck Speichel unter meiner rechten Wange.
Ich stand auf, ging ins Bad und wusch mir das Gesicht. Da war das Abbild Pierretots im Spiegel. Ein hübsches Portrait, oh ja! Hohe, faltige Stirn, umstanden von zurückweichenden, schwarzen Haaren, Stoppeln über gräulich brauner Haut, grüne Augen, neben dem rechten ein Leberfleck mit zwei schwarzen Haaren wie die Fühler eines Schmetterlings.
Gut gewachsene Nase; ja deine Nase ist schön, Pierretot, Punkt für dich. Aber sonst: traurig. 42 Jahre: ein zweiundvierzigjähriger Leberfleck mit Schmetterlings-Fühlern. Aber: die Wörter. Schreib deine Kritik, mach was aus dir!
Doch zunächst setzte ich mich aufs Klo und schiss.
In der Küche braute ich mir einen türkischen Kaffee und schlug zwei Eier in die Pfanne. Als sie fertig gebraten waren, schob ich sie auf einen Teller und trug sie und den Kaffee ins Wohnzimmer. Ich schaltete den Rechner ein und sah ihm essend beim Hochfahren zu. Dann suchte ich meinen Notizblock. Ich fand ihn in meiner Lederjacke. Ein Blick darauf brachte mich die zwölf Stunden zurück in den Konzertsaal.
Ich trank den Kaffee und begann zu schreiben: eine Seite, zwei. Ich druckte das Dokument aus.
Beim zweiten Korrigieren, hörte ich das Öffnen der Wohnungstür. Meine Frau, Rita, war vom Einkaufen zurück. Sie stellte die Tüten mit den Einkäufen in die Küche, packte sie aus & packte sie weg. Dann kam sie zu mir und küsste mich auf die Stirn.
»Na?«, sagte sie. »Endlich wach?«
»Mhmm«, sagte ich.
»Du hast mal wieder fürchterlich geschnarcht, die Nacht.«
»Ja?«
Sie küsste mich wieder. Ich gab ihr drei Küsse zurück.
»Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie’s war«, sagte sie.
»Dann bitte«, sagte ich und gab ihr die korrigierten zwei Seiten. Sie setzte sich hin und las. Als sie mir die Seiten zurückgab, sah sie mir ernst in die Augen.
»Aha«, sagte sie.
»Wie bitte?«, sagte ich.
»Aha, wenn du meinst.«
»Allerdings«, sagte ich und begann die Korrekturen zu übertragen.
»Das klingt, als hättest du dich verliebt in die Kleine.«
»Den Anschein soll es erwecken. Aber es ist die Musik, in die ich mich verknallt habe.«
»Klingt mir nicht nach einem objektiven Urteil.«
»So was gibt es nicht. Urteile …«
»Ich will mich nicht mit dir streiten«, unterbrach sie mich. »Mach einfach.«
Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Ich sah ihr nach. Ihr runder freundlicher Hintern, der sinnlich gebogene Rücken, die braunen Locken: ich liebte sie. Aber ich hatte sie schon mehr geliebt, damals, nach der Niederkunft. Jetzt bemerkte ich immer mehr, wie sehr es sie verändert hatte, die Mutterschaft; und das es sie entstellt hatte, ein wenig.
Sie musste es gefühlt haben, denn seit einiger Zeit trieb sie Sport: Laufen, Gymnastik und solche Sachen. Konnte ich dieser Frau etwas vormachen?
Ich schickte das Dokument an meinen Lieblings-Redakteur, drehte mir eine Zig, öffnete das Fenster und sah rauchend hinaus.
Die Sonne brach durch und ich sah über die roten Ziegeldächer der Häuser hinweg, die dastanden wie Rinder vorm Schlachthof. Ich war wie neugeboren in dem ruhigen Wasser des Sonnenlichts und mein Blick wurde weit.
Wie wär’s Pierretot? Wolltest du nicht mal ein Buch schreiben? Oh ja. Ich bin ein Prinz. Nie wieder Erdgeschoss! In meiner Hochstimmung wusch ich die Wäsche und hing sie auf den Trockner. Danach öffnete ich eine Flasche Wein und setzte mich vor den Fernseher.
Rita kam vom Sport zurück, bedankte sich für’s Wäschewaschen (hörte ich einen Verdacht in ihrem Tonfall? sah ich ihn in ihren Augen?) und fuhr dann zu ihrer Arbeit. Ich sah noch zwei, drei Stunden in die Glotze (Serien), dann ging ich auf den Balkon. Die Wäsche war trocken und ich hing sie ab.
Die Herbstsonne brannte meinen Nacken. Es war schön mich brennen zu lassen wie Ton und zu schwitzen. Die Zweige der Baumkrone mit herabhängenden Blättern wie fettige Haare, standen müde in der windlosen Luft, hofften sich bald von der fettigen Blätterlast zu befreien.
In ihrem Schatten auf dem Hof spielten und schrien Kinder. Ein Junge brüllte unentwegt »Feuerwehr! Feuerwehr!« An einem Camping-Tisch saß der selbsternannte Blocksenat und soff und tratschte und lachte und brüllte in rauen & tiefen Altstimmen die Namen seines Nachwuchses: »Christian« »Mike« »Dean«. In der Werkstatt kreischte die Säge. Es roch nach Harz. Im Hintergrund rauschte der Verkehr wie das Blut der Stadt.
In meiner Hosentasche klingelte mein Mobiltelefon. Ich nahm ab und klemmte es zwischen Ohr und Schulter wie eine Geige.
»Frank«, sagte ich.
»Ja Jean, hallo«, sagte er.
»Sei mir gegrüßt. Wie geht’s dir?«
»Na ja, bin halt auf Arbeit. Tja … Hör mal Jean, was du mir heute morgen geschickt hast …«
»Ja?«
»Das kann ich so nicht drucken. Mann, warst du besoffen gestern, oder was?«
»Ich trinke nie so viel, dass es mein Schreiben beeinflusst.«
»So? Dann muss ich mir wohl ernsthaft Sorgen machen.«
»Was denn?«
»Was denn? Jean, das ist wenig oder nichts, was du da zusammengelabert hast. Sonst schreibst du blutige Leber mit Zwiebeln und das hier ist Zwieback mit Honig. Ich kann das so nicht bringen.«
»Jetzt sei doch mal ein bisschen offen, Frank. Die waren gestern wirklich außerordentlich.«
»Besonders die Kleine, was? Diese Freita so-und-so.«
Ich hörte auf Wäsche abzuhängen und nahm das Telefon in die Hand. In der anderen hielt ich ein Paar Socken meiner Tochter Marianne.
»Worauf willst du hinaus, Frank?«
»Worauf willst du hinaus? Das ist die Frage. Wenn du mit der Alten im Bett gelandet wärst, dann wäre das eine Kritik von John P., die man verkaufen kann. Eine die glaubwürdig ist. Ich muss dir das doch nicht erklären, oder Jean? Du weißt doch, wie ᾽ s läuft?«
»Ja, Frank.«
»Na dann, erzähl mal: was hat die dir denn gegeben? Hat sie dir die Falten aus dem Sack gelutscht?«
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