„Und blöde und störrisch und nörgeln und dösen“, fügte Hellmut hinzu, als während einer Pilzwanderung die Rede auf das Ö kam.
„Und schön und fröhlich und versöhnen“, konterte Gerda.
Als Mann der Buchstaben nahm ich es gelassen, wusste ich doch, dass Hellmut ein Mann der Zahlen war. Hellmut hielt es eben lieber mit berechenbaren Fakten, statistischen Werten und abgesicherten Erfahrungen, was ihm als alten Mathematiklehrer auch gut zu Gesicht stand. Jeder von seinen Mitpilznern profitierte von den Ergebnissen seiner Überlegungen. Wenn es nämlich an die Absprachen zum gemeinsamen Hobby ging, wann die nächste Fahrt in welche Pilzgegend führen sollte. Er war der Älteste von uns Vieren, die in wechselnder Besetzung vom späten Frühjahr an bis zum allerletzten Ende der Saison durch die Wälder streiften. Die Mühe, die ihm das Laufen bereitete – er hatte ein steifes linkes Knie –, war ihm nicht anzumerken, sobald er Waldboden betrat. Den Gehstock, den ihm der Arzt verschrieben hatte, gebrauchte er nur einmal, um ihn in die Besenkammer zu stellen. Ursprünglich war Hellmut Pilzgänger im Erzgebirge, wo er seine Jugend verbrachte, ehe er zum Pilzner wurde. Es waren auch andere Zeiten nach dem Kriege. Damit seine Geschwister weniger zu hungern brauchten, machte er, der schon zur Schule ging, sich mehrmals in der Woche auf, die Früchte des Waldes zu holen. Einmal, es war ein regenarmer Sommer und ein noch trockenerer Herbst, sprach die Mutter den Vorwurf aus, den er einige Male schon in ihren Augen gesehen hatte. Er nehme mehr Essbares mit in den Wald als aus dem Wald nach Hause. Während und nachdem sie das sagte, flossen die Tränen, bei der Mutter und beim Sohn. Auch noch, als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten.
Pilzgänger ist man in schweren Zeiten, wenn es am Nötigsten mangelt. Wenn die Marone das Fleisch, der Pfifferling das Gemüse und der Pfeffer-Röhrling die Würze ist. Dann geht man allein hinaus und hütet sich gesehen zu werden. Wegen der guten Weidegründe, nach denen auch Andere aus dem Dorfe unterwegs sind. Heute ist man Freund der Pilze aus ganz anderen Motiven heraus. Und damit ist man mit anderen Pilznern locker vergesellschaftet, wie es der Mykologe sagen würde.
Hellmut bewahrte seine Achtung vor dem Wald und sein Interesse an allem, was dort wächst, läuft und fliegt, über all die Jahre hinweg, da er als Lehrer und Dozent von der Großstadt festgehalten wurde. Seiner Liebe zur Natur und zur heimatlichen Landschaft tat es keinen Abbruch. Im Gegenteil. Er wurde aktiver, je schneller die Fichten im Erzgebirge eingingen. Die Stasi legte einen weiteren „Vorgang“ über ihn an, also eine zweite Akte, nachdem er 1984 eine Staatsratseingabe gemacht hatte. Er wies darin exakt nach, dass das Erzgebirge das in seiner Längenausdehnung größte umweltgeschädigte Gebiet der Erde ist. Und wann die zuständigen Ministerien und auch die gewählten Volksvertreter endlich konkrete Maßnahmen gegen das Waldsterben einleiten würden. Darauf hin kam es zu einem Treffen mit dem Stellvertreter des Ministers für Landwirtschaft, er wies sich jedenfalls so aus. Das Treffen fand auf einer Parkbank in den Grünanlagen vor dem Hauptbahnhof in Leipzig statt. Nicht, dass eine schriftliche Antwort gegeben worden wäre, wie es das Eingabengesetz vorsah. Im Vorfeld zu dieser Angelegenheit konnte auch über die Partei nichts abgeblockt werden. Und das Zimmer des Parteisekretärs stand den Parteilosen nur offen, wenn die Partei etwas von ihnen wollte. Hellmut war lediglich Mitglied des Kulturbundes.
Das Ergebnis: „Im Prinzip mag das so stimmen. Uns sind aber die Hände gebunden ... Und im Vertrauen auf Partei und Regierung werden die Werktätigen der DDR ...“
Kurz danach fand Hellmut heraus, dass die Energie von zwei Braunkohlebriketts notwendig ist, um bestenfalls drei Briketts herzustellen. Mit diesem Energiesatz arbeiteten auch die Entwicklungsingenieure, Bergbau- und Kraftwerkstechniker, weniger aber die Funktionäre der SED, die willkürlich ein ökonomisch besseres Verhältnis ansetzten und propagierten. In der Wirklichkeit gab es Fälle, da die Planerfüllung nur auf dem Papier stand.
Und dafür wurde Mutter Erde geschändet, wurde wertvolle Landschaft vernichtet. Wurden die Menschen in Magdeborn, Eythra und anderswo entheimatet, in über 60 Gemeinden zusammengenommen seit Beginn des Kohleabbaus. Die Bergleute hatten ihr gutes Auskommen, richtig. Sie und ihre Angehörigen und die Städter um sie herum hatten weit überdurchschnittliche Raten an Erkrankungen der oberen Luftwege, auch richtig. Den Protestierern stand die gefängnisdrohende Innenpolitik gegenüber – darauf war Verlass. Doch Hellmut wurde zu einem Aktivisten der Umweltbewegung in Leipzig, einer der Grundfesten der friedlichen Revolution vom Herbst 1989.
Und Trost, Erbauung und klaren Kopf fand er in den wunderschönen, noch intakten Auwäldern der Messestadt. Doch nur wenige der üblichen Sammelpilze! Es waren hauptsächlich Schirmpilze und Riesenboviste, was die genießbaren größeren Arten betrifft.
Womit wir wieder beim Thema wären. Nunmehr im Ruhestand, entwickelte er zur daseinsausfüllenden Liebe, was in Kindesjahren lästige Pflicht gewesen war. Diese Liebe, bekennende Hingabe, Forschungsmotivation und sportliche Aufgabenstellung im Reich der Pilze kann bei einem Menschen, der kein Einzelgänger ist, nur gedeihen, wenn sie geteilt wird. Und wenn man, wie in unserem Falle, von den Teilhabern auch profitieren kann. So umgab er sich im Laufe der Jahre seit seiner Verabschiedung von der Universität mit Gleichgesinnten, von denen Wolli, Gerda und ich den harten Kern um die „Keimzelle“ Hellmut bilden. Sogar die Lautung der Vornamen hatten wir unseren gemeinschaftlichen Streifzügen in den näheren oder ferneren Pilzwäldern zu verdanken. Zweisilbigkeit war Bedingung. „Friedo“ ruft sich zur manchmal notwendigen gegenseitigen Ortung viel deutlicher als Friedrich, „Wolli“ kann auch sehr laut gerufen werden und ist gegenüber Wolfgang so gut wie unverwechselbar, und Gerda heißt eigentlich Grit. Da wäre aber jedes Pilzmännlein erschrocken und vor Scham in den Waldboden versunken, hätte einer das klanglose „Grit, Grit“ gerufen. Es klang wie „igitt“. Grit selber hätte womöglich das eine oder andere Mal den Weg oder den Treffpunkt verfehlt.
Wir fanden uns, weil ein jeder auf der Suche nach der geheimen Wirklichkeit im Reich der Pilze war. Und weil jeder einen anderen waldgerechten Wesenszug hatte und einem anderen Beruf nachging. Weil wir unterschiedlichen Alters und verschiedenen Familienstandes waren. Die eine Seite war das gemeinsame Interesse, die andere Seite die Vielfalt der Kanäle, aus denen der Brennstoff für die Flamme der Begeisterung munter floss, von der diese Vorliebe, ja Leidenschaft, gespeist wurde. Das galt für den Vertreter der exakten Wissenschaften genauso wie für den zögerlichen Schöngeist, der in seiner Handlung überwiegend auf Erfahrung und in seiner Denkweise das meiste auf Sozialbezogenheit setzt. Das galt für den jungschen Hüpf-in-die-Welt mit seinem Hang zu esoterischen Betrachtungsweisen genauso wie für die charmante junge Frau und, später, realpolitische Hausfrau, die ihre Familie nur allzu gern mit ihren Pilzrezepturen verwöhnte.
So zogen wir denn schon ein viertel Jahrhundert lang durch die Kiefernwälder des Flämings, die Nadel- und Laubbaumgesellschaften in der Dübener Heide, die sandigen Kiefernforste in der Niederlausitz, die Waldgebiete hinter Dahlen und vor Wermsdorf, die bescheidenen Nadelwaldpartien im Colditzer Forst und die kleineren und größeren Waldflecken im Thüringischen Holzland. Selbst die dünn gesäten Buchenwaldungen entlang Saale und Unstrut ließen wir nicht aus. Hier begann sogar unser Pilzjahr im April mit den lange tapfer umherstehenden Mairitterlingen und den lustigen kleinen Speisemorcheln und Verpeln.
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