Gute Freunde statteten uns wenige Wochen später einen Besuch ab und wurden von Pascal gedrängt, die allabendliche Gute-Nacht-Geschichte zum Besten zu geben. Alle drei Jungen lauschten gespannt, was es mit Ritter Blaubart, seiner Frau und dem rätselhaften, verschlossenen Zimmer auf sich haben könnte, obwohl Conrad das Märchen eigentlich schon kannte. Noch bevor dieses Rätsel durch den Vorleser hätte gelöst werden können, sprang unser quirliger Pascal erregt hoch und verkündete selbstbewusst seine Idee, die Geschichte allein zu Ende erzählen zu wollen. Fast alle waren begeistert von dieser Idee und der Einzige, der es nicht war, nämlich Benjamin, ertrug die plötzliche Planänderung mit bewundernswerter Fassung. Er rannte eine kleine Runde nach Luft schnappend im Kreis und setzte sich dann, für Außenstehende scheinbar ganz ruhig, auf seinen immer gleichbleibenden Vorleseplatz zurück. Pascal gab eine nette, kleine Geschichte zum Besten und überzeugte unsere Freunde wieder einmal von seinem Einfallsreichtum und seiner Redegewandtheit. Als der Vorleser nun zum zweiten Mal versuchte, das Ende des Märchens von Charles Perrault zu Gehör zu bringen, schnellte Benjamin in die Höhe und stellte sich kerzengerade sehr dicht vor unserem Bekannten auf. Mit den Worten „Iie auch“ machte er darauf aufmerksam, dass auch er die Geschichte zu Ende erzählen wollte. Darauf begann er, ohne auf eine Antwort zu warten, das Märchen von Beginn an zu erzählen – mit holpriger, lauter Stimme und noch vielen schwer verständlichen Wörtern. Aber es war keine bloße Nacherzählung des Gehörten, sondern die Präsentation eines sehr opulenten Bildes des Schlosses von Ritter Blaubart. Im Gegensatz zur Originalvorlage, in der die Räumlichkeiten wie folgt beschrieben wurden: „Am Morgen des nächsten Tages kamen die Besucherinnen dort an und begaben sich auf Entdeckungsreise durch die vielen Räume. Sie liefen ungeniert durch Säle und Flure […]“ 2, klang Benjamins Schilderung wie eine detaillierte Führung durch eine prächtige Sehenswürdigkeit. Er beschrieb alle Zimmer, die vom großen Saal abgingen, und klärte uns über deren kostbares Inventar auf. Da die Benutzung seiner Muttersprache noch immer keine Selbstverständlichkeit für unseren Sohn war und es selten genug vorkam, dass er vor Publikum sprach, ließen wir ihn gewähren, obwohl wir bemerkten, dass sich spätestens nach der Beschreibung des vierten Raumes eine gepflegte Langeweile bei unseren Freunden einstellte. Als er in seinem langen Monolog eine kurze Pause einlegte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach dem Ende seiner Geschichte zu erkundigen. Sichtbar erleichtert antwortete er knapp: „Und im Nicht-Reingeh-Zimmer war schrecklicher Drache.“ Mir ist an jenem Tag plötzlich klar geworden, wie Benjamins Denken funktioniert. Er hatte vernommen, dass in dem Märchen ein Schloss eine Rolle spielt, und diese verbale Information setzte er sofort in ein Bild eines solchen Gebäudes um. Beim Nacherzählen rief er dieses in seiner Fantasie so facettenreiche Bild auf und gab es in Worten, die wahrscheinlich nicht im Entferntesten an sein schillerndes inneres Gemälde heranreichten, wieder. Zwei Dinge mussten uns dabei zwangsläufig auffallen. Zum einen spielten die handelnden Personen in Benjamins Erzählung nur eine Nebenrolle, im Gegensatz zu Pascal, dessen Protagonisten ein reichhaltiges Gefühlsleben offenbarten. Zum anderen unterlag unser mittleres Kind dem von ihm selbst nicht zu durchbrechenden Zwang, sein ganzes inneres Bild wiedergeben zu müssen. Erst nachdem er durch das für ihn körperlich anstrengende Sprechen und das kräftezehrende Aushalten der Besuchssituation völlig ausgelaugt war, konnte er meine Zwischenfrage nach dem Ende seiner Geschichte als Erlösung aus dieser Situation annehmen. Trotz all dieser Auffälligkeiten war für uns jedes von Benjamin mühsam hervorgebrachte Wort außerordentlich kostbar.
Das große, farbenfrohe Plakat mit der verlockenden Ankündigung des neuen Disney-Films fiel Benjamin während unserer Fahrt zur Therapie auf, worauf er unvermittelt verkündete, dass er ins Kino gehen wolle, um die im Film agierenden Krabbeltierchen „ganz groß“ zu sehen. Das war ein überraschender Wunsch, denn bis jetzt hatte seine Angst vor der Dunkelheit gemeinsame Kinobesuche stets verhindert. In den folgenden Tagen ließen uns die quirligen Helden des Filmes keine Ruhe: Sie tauchten in den Zeitschriften der Kinder auf, sie eroberten die Spielzeugläden und sie waren das favorisierte Gesprächsthema der anderen Kinder in der Schule. Mit äußerst gemischten Gefühlen beschloss ich daher, mich in dieses neuerliche Abenteuer zu stürzen, denn Benjamins glühende Wünsche hatten ihn schon oft über seine eigenen Schatten springen lassen. Ein kleines Kino in der Nachbarstadt schien mir geeigneter als unsere unübersichtlichen Großstadtkinos. Der Erwerb der Karten gestaltete sich äußerst schwierig, da Benjamin bereits beim Warten in der relativ kurzen Schlange immer wieder die Flucht ergreifen wollte und deshalb von mir festgehalten werden musste. Pascal, der an diesem Tag ebenfalls zum ersten Mal ein Kino besuchte, hielt sich an meiner anderen Hand fest, wobei er dies nicht aus Angst, sondern eher aus Aufregung und Ungeduld tat. Als ich die Eintrittskarten bezahlen musste, hatte ich keine Hand frei, weil das eine Kind mich nicht loslassen wollte, wogegen ich das andere Kind nicht loslassen konnte, denn direkt vor dem Kino befand sich der Busbahnhof und ich konnte nicht riskieren, dass Benjamin dort hinlief. Schließlich gelang es mir, Pascal an Conrad zu übergeben und mit einer Hand mühsam das Geld aus meiner Brieftasche zu ziehen. Danach suchte ich mit meinen beiden Kleinen die Toilette auf, wo ich sofort von zwei Frauen angegriffen wurde, weil sie der Meinung waren, dass Benjamin nichts auf der Damentoilette zu suchen habe. Was sollte ich denn tun? Ich hatte doch überhaupt keine andere Wahl, deshalb versuchte ich beharrlich, das unerträgliche Gezeter zu ignorieren.
Insektenspuren verzierten verheißungsvoll die sandfarbenen Wände und die dunkelrote Treppe, welche zum Kinosaal hinaufführte, was es Benjamin enorm erleichterte, diesen Weg zu bewältigen. Am Eingang des Kinosaals stockte er, folgte aber dann zögerlich seinen Brüdern. Vorsorglich hatte ich Randplätze gewählt, falls wir das Kino vorzeitig verlassen mussten. Aber wie würde Pascal reagieren, wenn ich ihn dann mitten aus dem Film reißen müsste? Gedanken über Gedanken hämmerten in meinem Kopf. Die wenigen Minuten bis zum Filmstart verbrachten alle Kinder um mich herum mit aufgeregtem Schnattern, Benjamin jedoch saß kerzengerade auf seinem weinroten, weichen Kinositz und verzog keine Miene. Als das Licht langsam ausging, sprang er auf meinen Schoß und fing an zu weinen. Weil sein Weinen lauter wurde, wollte ich bereits den Saal verlassen, aber dann erschienen die ersten Bilder auf der großen Leinwand und je lauter die Musik spielte, desto leiser schluchzte mein Sohn. Nach einer Weile verstummte sein Weinen und er folgte angespannt den abwechslungsreichen Taten der liebenswerten Leinwandhelden. Wurde der Film zu gruselig, so vergrub er sein Gesicht im Rollkragen meines Pullovers und hielt sich die Ohren zu. Er harrte bis zum Ende des Filmes aus und somit wurde „Das große Krabbeln“ zu seinem ersten Kinoerlebnis. Nach dieser Aktion war nicht nur Benjamin körperlich völlig ausgezehrt, sondern auch ich, und deshalb wünschte ich mir, ich könnte sofort ins Bett fallen, was vollkommen illusorisch war. Zudem bedauerte ich zutiefst, dass ich Pascal nicht mehr Aufmerksamkeit schenken konnte, da auch er an einigen Stellen des Films Trost und Zuspruch gebraucht hätte und zeitweise den Platz auf meinem Schoß beanspruchte, aber Benjamin hing zu fest an mir und gewährte seinem Bruder nur wenige Minuten ein Aufenthaltsrecht. Hätte ich Benjamin in seinen Stuhl gezwungen, dann hätte ich den ganzen Kinobesuch aufs Spiel gesetzt.
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