Was wir allerdings nicht vorhergesehen hatten, war die Tatsache, dass Pokémons ansteckend waren wie Windpocken. Kurze Zeit später hatte nicht nur Conrad alle einhundertfünfzig Wesen auswendig gelernt, sondern auch Benjamin kannte sämtliche Gestalten und bemühte sich sogar, deren Namen verständlich auszusprechen, was bei Wörtern wie Quaputzi, Smettbo, Sarzenia oder Vulpix eine echte Herausforderung für ihn darstellte, die er mit Feuereifer annahm. Selbst Pascal begann, sich mit diesen Wesen zu beschäftigen. Eine unaufhaltsame Sammelwut befiel unsere Kinder und ein unstillbarer Hunger nach Plüschtieren, Büchern, Sammelkarten, Aufklebern und anderen Produkten bestimmte unseren Alltag. Wir ließen dies in einem gewissen Maße zu, denn diese kleinen Taschenmonster brachten uns unglaubliche Erfolge, da Benjamin so sehr auf sie fixiert war. Er übte nicht nur fleißig sprechen und lesen, sondern er legte sich genau wie seine Brüder einen selbst gezeichneten Katalog mit allen Pokémons an, wofür er Karteikarten benutzte. Sorgfältig listete er Eigenschaften und Fähigkeiten der Geschöpfe auf und schulte somit freiwillig seine Schreibfertigkeiten. Da auch er seine Sammelkarten vervollständigen wollte, ging er auf seine Brüder zu, um mit ihnen doppelte Karten zu tauschen. An kleinen Partys und ausgedehnten Spielen mit den Plüschfiguren, welche seine Geschwister zelebrierten, nahm er bedeutend ausdauernder und toleranter teil als an früheren Spielen. Seine sozialen, sprachlichen und motorischen Fähigkeiten wurden so völlig ohne Zwang trainiert. Außerdem eignete sich alles, was irgendwie mit Pokémons zu tun hatte, sei es nun die Fernsehserie, die wir für unsere Kinder aufzeichneten, oder seien es kleine Geschenke, mit denen ich mich bei jeder Gelegenheit bevorratete, hervorragend als Motivationsmittel für Benjamin. Wollte er ungeliebte Aufgaben nicht erledigen, so machte ihn die Aussicht auf das Ansehen einer Folge Pokémon, auf ein paar Aufkleber oder auf ein Tütchen mit Sammelbildern meist sehr gefügig. Später, als auch unsere beiden Kleinen eine eigene Edition für den Gameboy besaßen, tauschte Benjamin mit seinen Brüdern ebenfalls seine virtuellen Monster. Und Conrad wechselte mit seinem besten Freund Sören digitale Kreaturen für seinen Bruder, weil Benjamin diese Leistung nicht fertigbrachte. Es berührte mich zutiefst, dass mein Großer dies aus eigenem Antrieb und aus Liebe zu seinem Bruder tat. Zum allerersten Mal begann unser mittlerer Sohn in dieser Zeit über seine Empfindungen zu reden, weil er die Pokémons in absolute Lieblinge, welche, die „ganz gut“ waren, und solche, die er gar nicht mochte, einteilte. Ich kann nur sagen, ich begann, diese Monster zu mögen, weil sie uns allen so sehr das Leben erleichterten.
Benjamin grübelte außerdem bei jeder einzelnen Kreatur darüber, welche Lebewesen oder Fantasy-Figuren dem Entwickler wohl als Inspiration gedient haben könnten. Da ich mich mit Leib und Seele auf diese Diskussionen einließ, wurden unsere Gespräche ausdauernder und intensiver. Mir war wichtig, dass wir miteinander redeten, worüber wir uns unterhielten, war vorerst zweitrangig. Wenn Kommunikation für unseren Sohn erst einmal selbstverständlich geworden ist, dann werden wir auch über andere Themen sprechen können. Dies sollte sich bewahrheiten, denn ein paar Jahre später plapperte Benjamin zumindest im Familienkreis wie ein Wasserfall, weil bei ihm ein Gedanke den anderen jagte und er uns diese Ideen und Einfälle unbedingt mitteilen wollte. Leon prägte dafür liebevoll den Begriff „Assoziationskettenrasseln“. Als wir ihn einmal zum Schweigen aufforderten, antwortete er uns entrüstet: „Früher habe ich euch zu wenig geredet und jetzt rede ich euch zu viel!“
In der zweiten Hälfte von Benjamins zweitem Schulbesuchsjahr fielen uns zunehmend mehr Stressreaktionen an unserem Sohn auf. Außer dem Kauen an den Fingernägeln, an das wir uns ja beinahe schon gewöhnt hatten, begann er zu unserem Entsetzen jetzt erneut damit, seine T-Shirts zu zernagen, was er seit Beginn der Vorschule nach seiner reichlich missglückten Kindergartenzeit nicht mehr getan hatte. Nach der Schule lief er nur noch nervös auf und ab, konnte sich auf kein Spiel mehr konzentrieren und das abendliche Einschlafen gestaltete sich immer schwieriger, weil Benjamin uns zwar müde erschien, aber nicht einschlafen konnte. Wir vermuteten, dass er Kummer hatte, aber konnten nicht herausfinden, was ihn so bedrückte. Als ich in dieser Zeit die Aufforderung zu einem Elterngespräch von Frau Ferros bekam, glaubte ich, den Dingen nun auf den Grund gehen zu können. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Frau Ferros bombardierte mich mit Vorwürfen, ließ mich kaum zu Wort kommen und wertete alle meine Argumente als Ausreden. Das Gespräch lief folgendermaßen ab. Nach der knapp ausgefallenen Begrüßung wurde ich darüber aufgeklärt, dass Benjamin jeden Tag draußen spielen müsse, und eine Menge Tipps für geeignete Sportarten gab die Lehrerin ungefragt dazu. Ich erwiderte, dass unser Sohn aus den verschiedensten Gründen, die ich alle versuchte aufzuzählen, (noch) nicht allein draußen spielen kann, erklärte die Probleme, die er aufgrund seines schwachen Muskeltonus mit den unterschiedlichen Bewegungsabläufen hat und … Aber sie unterbrach mich und beharrte darauf, dass ich meinen Sohn einfach nur auf den Spielplatz schicken müsse, alles andere ergäbe sich dann von allein. In ihrem Bericht schrieb sie dazu wenig später: „Durch das Elternhaus sollte es Benjamin unbedingt ermöglicht werden, seine Freizeit so oft wie möglich mit anderen Kindern (auch fremden) außerhalb der Wohnung zu verbringen. Es ist für seine soziale Entwicklung wichtig, dass er sich darin übt, zu Kindern soziale Kontakte herzustellen, diese zu pflegen, Kompromisse zu schließen […]. Nur so kann es gelingen, seinem egoistischen Verhalten entgegenzuwirken […].“ Dann warf Frau Ferros mir vor, dass unser Sohn „unfair, rücksichtslos und kontaktgestört“ sei, was sie am Schuljahresende so auch in seine Beurteilung schrieb: „So kam es auch vor, dass er körperlichen Einsatz zeigte, um seine Interessen durchzusetzen.“ Benjamin müsse beim Essen immer der Erste sein und er habe sie heute bei der Mittagsmahlzeit unter dem Tisch getreten und sich nicht entschuldigt! Bei diesen Ausführungen spürte ich einen leichten Hass in ihrer Stimme, aber Frau Ferros schien nie den Stress zu spüren, den Benjamin in solchen Situationen aushalten musste. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass unser Sohn oft an uns oder seine Geschwister anstieß, aber das lag an seiner schlechten Bewegungskoordination und nicht an der ihm unterstellten Rücksichtslosigkeit.
Die immer noch anhaltenden Rivalitäten mit seinem Klassenkameraden Kevin waren der nächste Punkt auf Frau Ferros’ Beschwerdeliste, wozu ich nichts weiter sagte und mich mit dem Gedanken tröstete, dass es doch ihre Aufgabe ist, Ordnung in die Klasse zu bringen. Frau Ferros bemängelte, dass Benjamin Grundbegriffe, die ein Achtjähriger beherrschen muss, nicht kenne. Das verwunderte mich und ich fragte genauer nach. Sie verkündete, er kenne keine Kleidungsstücke, aber dagegen erhob ich energisch Einspruch, denn ich wusste genau, dass mein Sohn über dieses Wissen verfügte. Etwas kleinlaut gab Frau Ferros daraufhin zu, dass Benjamin nicht wusste, was eine Bluse ist. Wie sollte er das auch wissen, wo er doch nur Brüder hat? Mit dem Lesen klappe es nicht, weil Benjamin dafür einfach zu „faul“ sei. Dass uns unser Sohn seit Beginn des Frühlings jeden Abend eine Seite aus einem Tierbuch vorlas, glaubte sie mir einfach nicht. Wie sollte ich ihr dies auch beweisen, musste ich es überhaupt beweisen? Des Weiteren könne sich unser Sohn keine vier Wörter hintereinander merken, wenn sie nur einmal vorgelesen werden. Diese Fähigkeit sei aber wichtig für das Schreiben von Diktaten. Damit hatte Frau Ferros recht, das war uns auch bereits aufgefallen und daran arbeiteten wir schon mit verschiedenen Übungen.
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