Die Erfolgsquote unseres Sohnes bei seinen Übungsblättern lag mehr als ein dreiviertel Jahr lang bei durchschnittlich fünf richtigen Zuordnungen der Artikel pro Aufgabenblatt mit zehn Substantiven. Beim Verbinden der erlesenen Wörter mit den entsprechenden Bildern unterlief Benjamin dagegen so gut wie nie ein Fehler. Eine derartige Erfolgsquote konnte man bei zwei Versuchen auch durch Auswürfeln der Ergebnisse erreichen. Damit mussten wir davon ausgehen, dass alle Ergebnisse nur geraten waren. Eigentlich schien dieses Unterfangen sinnlos zu sein, aber eine innere Stimme riet mir, noch nicht aufzugeben. Inzwischen war fast die ganze Familie in dieses Projekt involviert. Pascal glaubte wohl, dass Benjamin zu viel Zuwendung bekam, und forderte ebenfalls eine Zeit lang Artikel-Übungsblätter von mir, obwohl er dabei nie Fehler machte. Conrad bot an, Übungsblätter für Benjamin zu zeichnen, um dafür eine Stunde länger am Computer spielen zu dürfen. Dieses Angebot nahm ich dankbar an, da Benjamin die von Conrad liebevoll mit Belohnungs-Pokémons verzierten Blätter mehr mochte als meine. Später zeichnete auch Pascal Übungsblätter für Benjamin, denn obwohl er erst die Vorschule besuchte, beherrschte er bereits das gesamte Alphabet und konnte schon eine Menge Wörter lesen und schreiben. Mitunter entwarfen meine Jungen außerdem am Computer Arbeitsblätter und druckten sie dann aus. Wir waren von ihrem Enthusiasmus ganz gerührt. Die Themen der Übungsblätter variierten täglich, manchmal wurden die Wörter willkürlich ausgewählt, dann wieder passten alle Wörter zu einem bestimmten Thema wie beispielsweise Geburtstag, Weihnachten, Gemüse oder Meerestiere. Nach ungefähr einem Jahr beharrlichen Übens stieg Benjamins Erfolgsquote plötzlich sprunghaft an, ohne dass ich dafür eine Erklärung fand. Nachdem diese unglaublichen Erfolge zwei Monate lang kontinuierlich anhielten, erhöhte ich den Schwierigkeitsgrad der Übungen, indem ich Benjamin entweder gleichzeitig den Plural der Wörter hinschreiben ließ oder zusammengesetzte Wörter, Verniedlichungen und Reimwörter benutzte. Später ließ ich ihn die Wörter allein zusammensetzen, wobei er auch die Artikel der einzelnen Wörter bestimmen sollte. Die letzte Stufe unserer Übungen bestand darin, dass Benjamin aus einem Substantiv und einem Verb ein zusammengesetztes Wort konstruieren und dann zuordnen sollte, also beispielsweise aus „Maus“ und „springen“ „die Springmaus“ zusammensetzen musste. Nach dieser langen Übungszeit schien der Erfolg dauerhaft zu sein und ich beschloss mit gutem Gewissen, Benjamin von dieser Qual zu befreien, nicht ahnend, dass schon bald die nächste Herausforderung auf uns lauern würde.
Unser Sohn beherrschte also fortan fast immer die richtige Wahl der Artikel, und zwar auch bei Wörtern, die wir nie geübt hatten. Er machte dabei nicht mehr Fehler als Gleichaltrige. Aber wie konnte das funktionieren? Die einzige, mir möglich erscheinende Erklärung ist, dass Benjamin durch die Übungsblätter gelernt hatte, sich die Wortkombination von bestimmtem Artikel und Substantiv als zwingende sprachliche Einheit einzuprägen, so wie er dies später mit Vor- und Zunamen von Personen tat. Er erstellte sozusagen eine visuelle Verknüpfung von Artikel und Substantiv als Ganzheit, denn nicht umsonst bedeutet „Artikel“ im Deutschen „Begleiter“. Fortan prägte er sich offensichtlich beim Vorlesen und während des eigenständigen Lesens die Substantive mit ihren Begleitern ein. Benjamin konnte zwar nun Artikel richtig bestimmen, aber nicht immer richtig benutzen, denn in Sätzen, wo diese überflüssig oder sogar falsch sind (Nullartikel), wie beispielsweise in dem Satz „Mäuse sind Nagetiere“, ließ er sie nicht weg. Ähnlich verhielt es sich ein paar Jahre später mit Vor- und Zunamen, wo unser Sohn nie einschätzen konnte, wie man diese richtig benutzt. Nachdem er endlich das Telefonieren erlernt hatte, beantwortete er die folgende Frage seiner Großmutter: „Hier ist die Oma, wer von euch Jungs ist denn dran?“, immer mit „Benjamin Maus“.
Etliche Jahre später fiel mir eher zufällig das über dreißig Jahre alte Buch von Elvira Crummenerl alias Gerda Thieme in die Hände. Zu meinem großen Erstaunen beschrieb die Gründerin des Selbsthilfevereins „Hilfe für das autistische Kind“ darin, dass viele Kinder aufgrund ihrer autistischen Behinderung nicht in der Lage sind, die richtige Verbindung zwischen Artikel und Substantiv herzustellen. Die Autorin nutze folgende Methode, um ihrem Sohn die korrekte Benutzung von Artikeln zu vermitteln: „Ich hatte damals als Brücke farbliche Kennzeichnung gewählt, wie ich es in einer Gehörlosenschule gesehen hatte. Alle Die-Wörter erhielten einen roten, alle Der-Wörter einen grünen und alle Das-Wörter einen blauen Strich. Dann unterteilte ich eine große Heftseite in drei Spalten, schrieb in die linke oberste Reihe ‚die‘ (mit einem roten Strich), daneben ‚der‘ (mit einem blauen [sic] Strich) und dann ‚das‘ (mit einem grünen [sic] Strich) und ließ Dirk die gekennzeichneten Wörter aus dem Bilderbrockhaus in die Tabelle eintragen, wobei er dann automatisch das richtige Geschlechtswort vorsetzte.“ 6Diese Methode hätte mit Sicherheit auch bei Benjamin zum Erfolg geführt, da diese Vorgehensweise genau wie mein Verfahren auf der visuellen Überlegenheit dieser Kinder aufbaut.
Unter dem Druck der Schule mussten wir unseren vormittäglichen Therapietermin für die Sensorische Integrationstherapie aufgeben und stattdessen auf einen Termin am frühen Abend ausweichen. Benjamin besuchte die Ergotherapie mittlerweile so gern, dass er trotz des späten Termins meistens zu einer guten Mitarbeit zu bewegen war. Von den Therapeutinnen wurden zahlreiche Höhepunkte organisiert, wie beispielsweise die zweimal jährlich stattfindende Schaumwoche. Dazu legten sie den größten Therapieraum einschließlich der Rutschen mit dicker Plastikfolie aus, um den kleinen Patienten ausgiebige Erfahrungen mit Wasser, Creme, Seife und Schaum zu ermöglichen. Benjamin verbrachte seine gesamte Therapiestunde damit, die Rutsche einzucremen und am Fuß der Rutsche Schaumberge aufzutürmen. Dann bestieg er die schiefe Ebene und sauste mit enormer Geschwindigkeit in sein vergängliches Hindernis, wobei er so ausgelassen und glücklich wirkte, wie wir es selten erlebten. Ich bedauerte sehr, dass Leon ihn so nicht sehen konnte, denn auch die geschossenen Fotos brachten nur einen Bruchteil dieser selten geäußerten Lebensfreude zum Ausdruck.
Im Herbst nach fünfzehnmonatiger Therapiezeit überwand unser Sohn seine Angst vor Tüchern und Planen. Er brachte viel Mut auf und kroch mehrmals unter das große Schwungtuch im Therapieraum. Diese positive Erfahrung ermöglichte es ihm, zu Hause seinen Kriechtunnel zu benutzen, welcher ein Iglu mit einem Tipi in verschiedenen Kinderzimmern verband. Vielleicht war dies ja ein erster Schritt, um mit seiner Angst vor der Dunkelheit besser umzugehen. Für unsere Halloween-Feier bastelte ich mit den Kindern Geister aus Styroporkugeln und alten Stoffwindeln, welche wir dann mit nachleuchtenden Stickern und Farben dekorierten, sodass sie das Dunkel ein wenig erhellten, nachdem sie zuvor einer Lichtquelle ausgesetzt worden waren. Am Abend von Halloween versteckte ich die aufgeladenen Gespenster in der Wohnung, gab jedem Kind eine Kürbistaschenlampe und ließ sie die Geister in der sonst völlig dunklen Wohnung suchen. Erstaunlicherweise protestierte Benjamin dieses Mal nicht, als auch das letzte Licht im Flur gelöscht wurde, und machte sich wie seine Brüder, allerdings sehr viel vorsichtiger und mit einer schaurig schönen Erregung, eifrig auf die Suche nach seiner Spukgestalt. Was für die Kinder Spaß bedeutete, betrachtete ich immer auch als Therapie und Training für Benjamin und so freute es mich außerordentlich, dass unser mittlerer Sohn an jenem Abend nicht genug von dieser Aktivität bekommen konnte. Seine Brüder spielten willig mit, denn je länger ihr Mitstreiter nicht die Lust verlor, desto länger durften sie aufbleiben. Aber sie veränderten mit jeder neuen Runde die Spielregeln, sodass einmal ein Kind alle Geister allein suchen musste oder jeder das Gespenst eines anderen aufspüren sollte. Später praktizierte ich dieses Spiel im Dunkeln in allen möglichen Varianten. Ich klebte nachleuchtende Insekten an die Türen und forderte die Kinder auf, im dunklen Zimmer mit weichen Schaumstoffbällen, welche in einem von einer Taschenlampe beleuchteten Körbchen lagen, die Tierchen zu treffen. Ein anderes Mal gestalteten wir aus Fotokarton und Papierstreifen Spinnennetze und befestigten sie an Wänden und Schränken. Dann verband ich den Kindern nacheinander die Augen, gab ihnen mit Klebefolie versehene Plastikspinnen und ließ sie unter den Anweisungen ihrer Brüder auf ein Netz zulaufen, um die Spinnen darin zu positionieren. Hinterher konnten sie so prima feststellen, wie gut sie sich ohne Sehen zu orientieren vermochten. In den Winterferien erntete ich die ersten Früchte meiner Bemühungen, denn Benjamin nahm all seinen Mut zusammen und betrat voller Ehrfurcht zusammen mit Pascal die spärlich beleuchteten, assyrischen Königsgrabkammern im Berliner Pergamon-Museum.
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