Am nächsten Tag rief Jens mich an, ob ich nicht mal zu ihm kommen könne, also zwei Türen weiter. Sonja wolle mit mir reden wegen der Arbeitsstelle. Widerwillig betrat ich das Büro. Bei dem Gespräch war Sonja aufgeregt, wie ich sie noch nie erlebt hatte, ihr Hals war rot angelaufen. Jens saß hilflos da wie ein begossener Pudel. Er ließ sie reden. Sie gab mir zu verstehen, dass aufgrund der Beziehung zwischen ihr und Jens es nicht gut wäre, wenn ich ihre Chefin würde. Zu meiner Beruhigung ließ sie mich wissen, dass sie die Stelle ablehnen würde. Selbstverständlich mit einer anderen Begründung. Sie erklärte mir, dass sie zu Jens gehöre und er ließ es geschehen. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, für wen er welche Gefühle hege? Aber ich hörte nur zu und wollte aus diesem verdammten Zimmer wieder raus. Dieser feige Kerl, lässt sich einlullen und ich gehe daran kaputt. Ich verließ deprimiert und wütend sein Zimmer. Danach gingen wir uns mehrere Tage aus dem Weg.
Nun beschäftigte mich unsere neue Struktur. Wir mussten uns entscheiden, ob wir die Arbeitsstelle wechseln wollten und in welchen Ort. Von den Arbeitsaufgaben her war es klar, dass Jens und ich die gleiche Stelle angeben mussten. Darüber hatten wir schon oft gesprochen. Aber es war uns auch klar, dass es, wenn wir weiter Büro an Büro sitzen würden und verstritten wären, nicht gut gehen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich für den näheren Arbeitsort zu entscheiden. Meine Familie wusste das schon lange, ich hätte keine Begründung gefunden, es auf einmal nicht mehr zu tun. Aber Jens’ Arbeitsweg würde länger werden. Er fragte mich um Rat. Wir diskutierten lange und auch sehr vernünftig. Unsere jetzige Arbeit machte uns beiden Spaß. Wenn wir den Antrag nicht abgaben, müssten wir vielleicht Arbeiten erledigen, die uns nicht lagen. Sonja würde sicherlich nicht zwangsversetzt werden. Wir redeten über alle Eventualitäten, bis wir letztendlich für die fachliche Entscheidungsfindung unseren früheren Chef fragten, der die Strukturänderung betreute. Er gab uns den Rat: „Das Personal geht mit seinen Aufgaben. Was gibt es groß zu überlegen, folgen Sie Ihren Aufgaben, wenn Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht.“
Daraufhin gaben wir beide unseren Wunschort ab und würden wahrscheinlich weiterhin eng zusammensitzen. In diesem Moment fühlte ich mich mit Jens wieder verbunden, freute mich, ihn vielleicht doch nicht verlieren zu müssen, obwohl noch nicht die letzte Entscheidung gefallen war. Es ging vorerst nur um Anträge, die konkreten Personalentscheidungen dauerten noch mindesten ein halbes Jahr.
So wie wir zum Lehrgang unseren Abschied und Abstand besiegelt hatten, kam es natürlich nicht. Wir redeten und gingen sehr einfühlsam miteinander um. Körperliche Nähe gab es allerdings nicht mehr, wie vereinbart. Aber jeder versuchte, mit dem belanglosesten Grund den anderen in ein Gespräch zu verwickeln, um in seiner Nähe sein zu können. Es war trotzdem zermürbend und ich fühlte mich immer noch wie auf dem Pulverfass.
Zu Hause zog ich mich noch mehr zurück, aber Holger merkte es immer noch nicht. Ich konnte nicht mehr schlafen und mein Herz raste ständig. Als Holger an einer Konstruktion für das neue Küchenradio bastelte, krochen wieder Schuldgefühle in mir hoch. Er bemühte sich mit allem so sehr und ich war mit Geist und Seele völlig woanders. Er tat mir leid. Aber Stunden später konnte ich das Mitleid schon wieder abschütteln. Holger lag auf der Couch und hatte in der Zeit, in der ich Kuchen gebacken und die Bügelwäsche erledigt hatte, eine ganze Flasche Kräuterlikör geleert. Er hielt sich nicht für einen Trinker, hatte strenge Prinzipien: Null-Promille beim Autofahren und auch an den Wochentagen keinen Tropfen Alkohol. Aber wenn die Zeit es zuließ, war eine Flasche Schnaps ziemlich schnell leer. Das hasste ich wie die Pest. Es war ihm nicht möglich, gemeinsam mal ein Glas Wein zu trinken. Aber mittlerweile war ich froh, dass es so lief. Ich konnte zu ihm Abstand halten und fand für mich eine Entschuldigung, dass ich Jens nicht aus meinem Herzen bekam.
Es standen viele Termine an, zu denen ich „Friede, Freude, Eierkuchen“ spielen musste. So fuhren wir mit Roberto und Karin zum ABBA-Konzert. Es fand in einer Mehrzweckhalle statt, 40 Kilometer entfernt. Obwohl ich die Musik mochte und die Sänger es gut nachahmten, empfand ich diese Stunden als Qual. Viele Titel brachte ich mit früheren Zeiten in Erinnerung und die Tränen kullerten. Ich war todmüde, hatte schlecht geschlafen, dazu die harten Stühle, die vielen Menschen und die Musik, die ich als viel zu laut empfand, das alles vermieste mir den Abend. Diese Nacht war nun noch kürzer als sonst, ich versuchte, das Erlebnis aus meinem Gedächtnis schnell zu streichen.
Zu Hause spielte sich immer mehr Routine ein. Die Woche über gingen wir uns aus dem Weg und versteckten uns hinter Erschöpftheit von der Arbeit und an den Wochenenden hatten wir „Besuch“, denn regelmäßig kam mein Großer dann mit seiner Freundin zu uns. Ich „bediente“ und versorgte die Familie und für alle war es selbstverständlich, dass es so ablief. Einerseits freute ich mich für ihn, dass er nicht mehr alleine war. Andererseits fiel es mir schwer, jedes Wochenende zu „funktionieren“. Jana hatte ihre Eltern zwar ganz in unserer Nähe, aber dort war es angeblich nicht möglich, länger zu bleiben. Also konzentrierten sich die Mahlzeiten, die Übernachtung, die Wäsche und so was auf uns. Sicher war ich nicht ganz unschuldig daran, dass meinen Kindern das „Hotel Mama“ so gut gefiel, aber diese Verpflichtungen wurden mir allmählich zur Last, weil sie eben so regelmäßig und selbstverständlich geworden waren. Ich lebte ihnen eine perfekte Familie vor und alle waren glücklich, aber es gab keine Freiräume mehr, alles musste jedes Wochenende durchorganisiert sein, weil man ja die Woche über auch keine Zeit hatte, sich um Haus und Hof zu kümmern. Die Wochenenden bestanden aus kochen, waschen, sauber machen, Gartenarbeit und dann schnell noch irgendeine Fete oder ein Tanzabend mit Freunden, obwohl man eigentlich total fertig war. Nach außen sah es ganz wunderbar aus, wie wir das alles so auf die Reihe bekamen, aber ich fühlte mich ausgebrannt. Holger gab es selten zu, obwohl er seine Kinder noch mehr bediente als ich. Ich rutschte immer mehr in die Zwickmühle. Wenn meine Ehe tatsächlich nicht mehr zu retten war, wie sollte ich das meinen Kindern erklären? Sie sahen doch gar keine Schattenseiten! Im Moment kam mir das zwar zugute, ich versteckte mich hinter der Arbeit, aber andererseits wurde der Abstand zu Holger immer größer. Doch ich war viel zu sehr mit meiner verzweifelten Lage beschäftigt, als darüber nachdenken zu können. Ich ließ es einfach geschehen.
Sonja war nun krankgeschrieben und Jens wirkte irgendwie lockerer und offener. Ich wusste, dass er fast täglich mit ihr telefonierte und auch, wann er das tat. Jedes Mal schnürte es mir die Kehle zu, bis es vorbei war. Wir nutzten aber natürlich ihre Abwesenheit, um uns wieder zu nähern. Wir organisierten ein paar Überstunden, um für uns allein sein zu können. Wir genossen die Zweisamkeit und jeder offenbarte dem anderen, dass seine über Wochen unerfüllte Sehnsucht nun endlich gestillt würde. Das waren die Augenblicke, in denen ich Schuldgefühle, Eifersucht, Angst vor der Zukunft einfach vergessen konnte. Es war wie ein „Auftanken“ für die nächsten Katastrophen, die ja vorhersehbar waren. Ich nahm das Risiko in Kauf erwischt zu werden und erhielt dafür Augenblicke der Zweisamkeit und das Gefühl, dass jemand mich auffängt aus einem scheinbar unlösbaren Zustand.
Wir freuten uns auf die bevorstehende Weihnachtsfeier, nicht wegen der Kollegen, sondern weil wir uns entfernen wollten, um eine Stunde zusammen zu sein. Wir wussten, dass wir in dieser Zeit nur im Auto sitzen konnten, denn draußen war es bitterkalt. Die Feier begann mit Bowling und ich versuchte lustig zu sein, wie man mich halt kannte, hatte aber ständig Jens im Blick. Beide warteten wir nur darauf, dass es endlich vorbei war. Beim Abendessen saßen wir uns schräg gegenüber, die Zeit verging einfach nicht. Einige Kollegen tranken, weil sie nicht mit dem Auto da waren, und es wurde lustiger und lauter. Jens war der erste, der bezahlte. Nun musste ich eine viertel Stunde warten, so war es vereinbart. Ob jemand was ahnte und wir uns nur einbildeten, unentdeckt ein „Verhältnis“ zu haben, überlegte ich nicht, es war mir derzeit alles egal. Als ich draußen war, rief ich ihn an, damit er mir den Weg beschrieb, wo ich hinkommen sollte.
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