Karin überlegt. Sie würde gerne etwas für sich allein unternehmen, ein bisschen durch die Auslagen der Geschäfte stöbern und gemütlich im Café sitzen. Außerdem liebt sie Wyk. Sie sieht Klaus fragend an.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mitginge?« »Nein, mein Schatz, fahr mit und mach dir einen schönen Tag. Ich gehe mit den Kleinen an den Strand.«
Nach einem ausgiebigen Frühstück gehen Klaus und die Mädchen, mit Picknickkorb, Badeutensilien, zwei großen, aufgeblasenen, roten Plastik Enten und mit Eimern und Schaufeln beladen, über die Dünen hinunter ans Meer. Karin bleibt zurück und winkt ihnen hinterher. Die dunkle Ahnung vom Morgen befällt sie wieder. Ich sollte nicht gehen, sondern bei ihnen bleiben! Dieses Gefühl breitet sich in ihr aus. Am liebsten würde sie ihrer Familie nacheilen. Doch sie schüttelt den Impuls ab und geht auf ihr Zimmer, um sich für die Stadt zu richten. Klaus macht es sich währenddessen in ihrem gemieteten Strandkorb bequem und schaut Lea und Klara beim Spielen zu. Eifrig buddeln sie im Sand und sammeln kleine Steine und Muscheln, die sie in ihre Eimerchen schaufeln. Nichts Anderes scheint sie zu interessieren.
Plötzlich hört Klaus lautes Rufen und das Schreien eines Kindes. Er zuckt zusammen und fährt auf. Ich muss wohl kurz eingeschlafen sein, denkt er und schaut erschrocken nach seinen Kindern. Doch an der Stelle, wo sie vor kurzem noch gespielt haben, ist niemand mehr zu sehen. Ein paar Meter weiter jedoch laufen Menschen zusammen, bilden einen Kreis um eine Person, die sich um irgendjemand bemüht, der auf dem Sand liegt.
Um wen es sich handelt, kann er nicht erkennen, doch eine furchtbare Ahnung steigt in ihm auf. Das Kinderheulen ist immer noch zu hören. Er rennt zu der Menschenmenge und schiebt sich hindurch. Klara stürzt sich in seine Arme. Klaus sieht, wie sich der Rettungsschwimmer um die leblose Lea bemüht.
Klaus’ Schrei wird vom Wind auf das Meer hinausgetragen und die Möwen tragen seinen Schmerz und seine Schuld in die kommende Zeit.
Sie steht am Ufer eines mächtig dahinströmenden Flusses. Ihr gegenüber auf der anderen Seite befindet sich ein kleines, dreijähriges Mädchen. Es hüpft und schwenkt die Arme und winkt ihr zu. Sie soll zu ihm hinüberkommen. Seine roten Haare wippen bei jeder Bewegung und sein lindgrünes Kleidchen bauscht sich und zeigt seine nackten Füße. Das Gesicht kann sie nicht erkennen, was sie jedoch nicht weiter beeindruckt, denn sie kennt das Kind. Sie möchte zu ihm auf die andere Seite, doch das kalte, glasklare Wasser, das sich gurgelnd und schäumend, mit lautem Rauschen seinen Weg bahnt, trennt sie. Die einzige Möglichkeit, um hinüber zu gelangen, bietet eine alte, morsche Holzbrücke. Allerdings gibt es kein seitliches Geländer und in ihrer Mitte klafft ein großes Loch, das wie ein Auge auf den reißenden Fluss starrt. Sie atmet schnell, um den Druck in ihrer Brust zu lockern und um ihren raschen Herzschlag zu beruhigen. Sie hat schreckliche Angst, doch dieses Mal will sie es über die Brücke schaffen! Dieses Mal? Ihr kommt es so vor, als würde sie es nicht zum ersten Mal versuchen. Überhaupt kommt ihr die ganze Situation irgendwie bekannt vor. In dem Moment, als sie die schaukelnden Holzbretter betritt, steigt, wie jedes Mal, dichter, weißer Nebel auf und hüllt sie und das andere Ufer in einen grauen Schleier. Das Kind verschwindet in seiner Undurchsichtigkeit.
Sie schreit. Tief aus ihrer Seele steigt der Schmerz auf und bahnt sich seinen Weg in ihr Bewusstsein, ins Erwachen. Ruckartig setzt sich Klara in ihrem Bett auf und tastet nach der Nachttischlampe. Ihr mildes Licht, das nun den Raum erhellt, beruhigt sie. Sie atmet tief ein und aus. Noch immer spürt sie den Schmerz in sich. Fremd und doch so bekannt! Ihr Blick fällt auf den Wecker. Mitternacht ist gerade vorbei. Die Nacht liegt in ihrer langen Dunkelheit noch vor ihr. Aus Angst, wieder in das Traumgeschehen hineingezogen zu werden, zögert sie das Wiedereinschlafen hinaus, indem sie in die Küche geht und langsam ein Glas heißes Wasser trinkt. Sunny, ihre kleine, spanische Mischlingshündin, kommt erwartungsvoll aus ihrem Körbchen und hofft auf einen Hundekuchen.
»Ach Sunny, geh wieder schlafen, es gibt jetzt nichts zu fressen. Ich komm auch gleich.«
Ein bisschen enttäuscht trottet Sunny in Richtung Schlafzimmer. Klara nimmt einen Schluck Wasser aus ihrem Glas. Schon wieder dieser Traum! Seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter vor einem halben Jahr sucht er sie immer wieder heim, manchmal mehrere Male pro Woche. Aber jetzt möchte sie nicht weiter darüber nachdenken. Sie muss irgendwie zur Ruhe kommen und weiterschlafen, denn sie hat morgen einen anstrengen, arbeitsreichen Tag vor sich. Um halb zwei dreht sie das Licht aus.
Sie steht wieder am Fluss, doch jetzt ist das Kind nicht da. Sie schaut auf die andere Seite und bemerkt einen großen, schwarzen Vogel, der auf sie zugeflogen kommt. Er hat die Größe eines Adlers, sein Gefieder schimmert blauschwarz und seine Augen leuchten so grün wie Smaragde. Eigenartiger Weise hat sie keine Angst vor ihm, denn auch er kommt ihr irgendwie bekannt vor. Er trägt eine schwarze Feder in seinem Schnabel und lässt sie über ihr fallen. Leise segelt die Feder nieder. Bevor sie auf dem Boden landet, streift sie sachte ihr Gesicht.
Von diesem sanften Kitzeln auf ihrer Wange und dem schrillen Ton des Weckers wacht Klara nun endgültig auf. Schnell stellt sie den aufdringlichen Wecker ab, setzt sich im Bett auf und schaut aus dem geöffneten Fenster. Die rosa gemusterten Gardinen sind zur Seite gezogen. Sie liebt es, mit einem Blick auf die Sterne einzuschlafen und von den ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht geweckt zu werden.
Das war für sie auch der Grund, sich für die Wohnung im sechsten Stock zu entscheiden. Die großen Fenster bieten einen wunderschönen Blick auf den nahegelegenen Wald. Den Ausblick kann sie zwar im Moment nicht genießen, doch hilft er ihr jetzt, sich zu orientieren, um endgültig aus der Traumwelt zurück in die Tagesrealität zu kommen. Die Sonne verbirgt sich noch im blauen Morgendunst, leichter Nebel liegt über dem Wald, doch die Vögel singen schon in den höchsten Frühlingstönen. Es scheint ein schöner Tag zu werden.
Ihr zweiter Blick fällt auf das Hundekörbchen, das gegenüber an der Wand steht, doch es ist leer. Sunny liegt entspannt zusammengerollt am Fußende ihres Bettes, halb unter der zerwühlten Wolldecke vergraben und blinzelt mit einem Auge zu ihr hinüber, macht aber keinerlei Anstalten aufzustehen.
Müde und schwerfällig schält sich Klara aus dem Bett. Obwohl sie sich unausgeschlafen fühlt, ist sie doch froh, dass die Nacht mit ihren unheimlichen Träumen vorbei ist. Eigentlich ist es schon lange her, dass ich, nach einem tiefen Schlaf, am anderen Morgen voller Tatendrang aufstehe, stellt sie seufzend fest und schleppt sich in das Badezimmer. Unter dem warmen Strahl der Dusche kommen langsam ihre Lebensgeister zurück.
Schnell zieht sie ihre alten Jeans, ihre bequemen Laufschuhe und eine leichte Kapuzenjacke an und verlässt mit einer freudig bellenden Sunny das Haus.
Als sie die Wohnung damals besichtigte, hatte sie diese, ohne lange Bedenkzeit, sofort gekauft und ihren raschen Entschluss nie bereut. Sie hat das Wohnzimmer mit einer geräumigen Couchecke, einem kleinen Tisch und einem weißen Sideboard gemütlich eingerichtet. Die großen Fenster lassen die Tageshelligkeit ungehindert durch alle Räume fluten, so dass sie oft das Gefühl hat, sich im Freien zu befinden. Die kleine, moderne Holzküche bietet zwar keinen Platz für eine Essecke, aber da sie sowieso keine begeisterte Köchin ist, genügt ihr die einfache Küchenzeile mit einem Geschirrschrank und einem Regal. Vor allem aber ist sie von der Umgebung begeistert. Weit außerhalb der Stadt, direkt am Waldrand gelegen, bietet die Wohnung genau das, was sich Klara immer gewünscht hat. Der Supermarkt ist genau gegenüber und ein paar Straßen weiter liegt das kleine Dorfzentrum mit einem Café, einer Bäckerei, einem Naturkostladen und einem Schreibwarengeschäft. Sie kennt die Leute im Quartier und fühlt sich hier geborgen. Eine kleine, enge Welt am Rande einer Großstadt. Genau das, was sie möchte.
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