Der größte Teil der aus diesem Jahr vorhandenen Briefe stammt aus der Zeit eines Kuraufenthaltes Georgs mit seiner Mutter in Bad Gleichenberg (Steiermark). Seine Mutter scheint an einer ernsthaften Lungenerkrankung (Tbc?) zu leiden, an der sie vermutlich im darauf folgenden Jahr auch verstirbt. Aber auch Georg selber scheint eine medizinische Betreuung benötigt zu haben, wie einigen Briefpassagen zu entnehmen ist.
Aus den Beständen des Familienarchivs der Bremer Linie wurde die Kopie der Todesanzeige von Georgs Großvater in Kassel dem Rovinjer Archiv beigefügt. In der gedruckten Anzeige werden nach der Witwe Georgs Eltern und Georg mit dem Zusatz „junior“ aufgeführt. Nicht genannt werden Georgs Schwestern Amalie und Carlotta. Es hat den Anschein, dass Georg bereits für die Rolle des Familienoberhauptes vorgesehen ist, die ihm aber auf dem Familientag in Berlin (1899) von der Kasseler Linie (vermutlich wegen des Fehlens männlicher Nachkommen) streitig gemacht wird.
Es liegt auch ein „Liebesbrief“ von einer Ellen Jones vor, die sich für Haare von Georg bedankt und auch gerne von ihm am Abend nach Hause gebracht werden möchte. Der Brief ist mit dem Nachsatz versehen „Zeige Niemanden diesen Brief u. zerreiße ihn sobald Du es gelesen hast“. Das ist aber nicht geschehen. Von fremder Hand wurde 21/Dec. 65. auf dem Brief notiert. Vermutlich wurde dieser Brief als eine Erinnerung an seine „erste Liebe“ von Georg aufbewahrt.
1866
In diesem Jahr starb nach langem Leiden Georgs Mutter. Die von dem Pfarrer der Helvetischen Gemeinde gehaltene Grabrede wurde in gedruckter Form veröffentlicht. Aus diesem auch für die deutschösterreichische Beziehung schicksalhaften Jahr berichtet Graf Kielmansegg. Der Graf scheint ein Freund des Vaters gewesen zu sein (sich vielleicht auch nach dem Tode der Mutter besonders um Georg gekümmert zu haben). Die Situation scheint für die Familie Hütterott zwiespältig gewesen zu sein, da sie aus Deutschland stammt, aber in Österreich lebt. Georg möchte, dass die Italiener tüchtig „verhauen“ werden sollen, obwohl gleichzeitig die Niederlage der Österreicher in der Schlacht von Königgrätz bejammert wird. Die Familie scheint aber immer mehr der deutschen Seite zugeneigt gewesen zu sein. Selbst Hanna, die mit einem österreichischen Ministerialbeamten verheiratet war, begrüßte den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Zu der Familie des Grafen Kielmansegg hat mindestens bis 1911 Kontakt bestanden, da in den Alben Fotos von einem Besuch in der Villa Kielmansegg in Hohe Warte vorhanden sind.
1867
Am 3. November schreiben die beiden jüngeren Schwestern Amalia und Carlotta einen Brief an ihren Bruder. Georg hat sich in dieser Zeit in Braunschweig aufgehalten, wo er das „Günthersche Institut“ besuchte. Es hat den Anschein, dass es sich um ein „Pflichtschreiben“ an den Bruder handelte, denn die Briefe sind mit wenig Anteilnahme geschrieben. Sie enthalten auch keine Neuigkeiten, die für den abwesenden Bruder von besonderem Interesse gewesen wären. Vermutlich wurden sie von der Familie als ein Relikt aus der Jugendzeit des Vaters aufbewahrt. Amalie redet den Bruder mit „Süßes Görgchen“ an, eine Verniedlichung von Georg, während Carlotta ihn „Lieber Schneck“ tituliert, vermutlich ein kindlicher Spitzname. Über das Verhältnis Georgs zu seinen beiden Schwestern habe ich nichts in Erfahrung bringen können. Es scheint aber nicht ganz spannungsfrei gewesen zu sein.
Es scheint angebracht, hier einen Exkurs über die Schule in Braunschweig einzufügen, da sie eine Sonderstellung in der deutschen Schullandschaft einnahm.
Das 19. Jahrhundert kann als ein „Jahrhundert der Schulen“ bezeichnet werden, mit einer Abkehr von der alten „Lateinschule“ zur „neuhumanistischen Bildung“ mit besonderer Ausrichtung auf Mathematik und Fremdsprachen. Ziel war ein erreichbarer Abschluss, ähnlich der „mittleren Reife“ für etwa 16-jährige bis zur Hochschulreife.
Hermann Günther, Sohn eines Landpfarrers, der Gründer des „Instituts“ war schon als Schüler und Theologiestudent Anhänger der Revolutionspartei und floh 1833 vor den „Demagogen Verfolgungen“ in die Schweiz. Dort lernte er als Lehrer ein Schulwesen kennen, das in Europa einzigartig war und zum Pilgerziel vieler Pädagogen wurde. Seine politische Vergangenheit belegte ihn noch nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1849 praktisch mit einem „Berufsverbot“. Ausgeschlossen von einer Anstellung im öffentlichen Schulwesen blieb ihm nur die Stellung als Privatlehrer. Seine schnell anwachsende Familie, er hatte inzwischen 6 Kinder, veranlasste ihn eine Privatschule zu gründen da die Bezahlung als Privatlehrer kein ausreichendes Einkommen ermöglichte.
In den Gymnasien waren in den ersten Schuljahren 20 von 35 Unterrichtsstunden dem Erlernen alter Sprachen (Latein und Griechisch) gewidmet. Von den Römern und Athenern sollten die Schüler „Bürgertugenden“ erlernen. Mathematik und Naturwissenschaften wurden vernachlässigt.
Hermann Günther gründete bereits in seiner Schulzeit in Wolfenbüttel die Turngemeinde, die nach den Regeln des Turnvaters Jahn die Körperertüchtigung, Freiheit und Gleichheit fördern sollte. Zu dieser Zeit wurden die Turnvereine in Preußen verboten, weil „ das Turnen dem Körper mehr schade als nütze, und weil es ein wildes und aufrührerisches Geschlecht ausbilde“. 1830 begann Günter in Göttingen das Theologiestudium, in einer Zeit politischer Spannungen und Aufruhr. 1830 wurden die Bourbonen in Frankreich endgültig vom Thron vertrieben, 1831 wurde das konstitutionelle Königreich Belgien nach einem Aufstand in den südlichen Niederlanden errichte. Auch fing 1830 der große Freiheitskampf der Polen gegen den russischen Zaren an, der in ganz Europa mit lebhafter Anteilnahme verfolgt wurde. In seinem Heimatland Braunschweig wurde der regierende Herzog gestürzt. Ihm folgte der praktisch vom Volk gewählte Herzog Wilhelm, der mit seinen Untertanen eine für die damalige Zeit sehr liberale Verfassung vereinbarte. Auch Aufstände in Sachsen und Kurhessen führten in diesen Ländern 1830 zu Verfassungen. Eine nationale Revolution in Mittelitalien wurde in diesem Jahr von österreichischen Truppen niedergeschlagen. Politische Schwierigkeiten als Burschenschaftler und Anhänger des Turnvaters Jahn ließen Günther nach 2 Semestern an die Universität Jena wechseln, der Geburtsstätte der Burschenschaften. Weitere Stationen seines Theologiestudiums waren die Universitäten von Marburg und Heidelberg. An all diesen Universitäten war er Mitglied von Burschenschaften. Gegen ihn eingeleitete Untersuchungen veranlassten Günther 1833 in die Schweiz zu flüchten und dort um Asyl nachzusuchen, damals das beliebteste Asylland Europas. Er nahm das Theologiestudium zwar wieder auf, zweifelte aber, ob der Beruf des Pfarrers wohl der richtige für ihn sei. In der Züricher Universität traf er auf ein viel weiter gestecktes Studium als an den deutschen Universitäten. Er entschloss sich, sich der Pädagogik zuzuwenden. Nach Beendigung der Ausbildung fand er auch eine Anstellung als Lehrer.
1849 kehrte Günter nach Braunschweig zurück, um dort Lehrer zu werden, mit dem Wunsch, an der Verbesserung des bürgerlichen Bildungswesens mitzuarbeiten. Noch im Jahre seiner Rückkehr legte er das Examen als Gymnasiallehrer ab. Er erhielt wegen seiner politischen Vergangenheit aber nur eine befristete Anstellung, die Beförderungen ausschloss. Fast 10 Jahre dauerte dieser Lebensabschnitt als Gymnasiallehrer. 1861 promovierte er, was ihm aber keine finanziellen Vorteile brachte, derer er wegen seiner großen Familie so dringend bedurft hätte. Da er keine Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage sah, beschloss er die Gründung einer eigenen Schule.
Anfang des Jahres 1861 veröffentlichte Hermann Günther in den „Braunschweigischen Anzeigen“ seinen „Prospect seiner privaten Lehranstalt“, die zu Ostern eröffnet werden sollte. Als Lehrplan wurden aufgeführt: Deutsch, englische und französische Sprache, Rechnen, Mathematik, Physik, Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Buchführung, Kalligraphie, Hand- und Planzeichen. Die Besonderheit dieses Lehrangebotes war nicht nur die Vielfalt der Unterrichtsfächer, sondern die Möglichkeit für die Schüler, die Fächer nach Neigung frei zu wählen.
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