„Bist du richtig? Frag doch lieber mal nach! Schau mal in die Karte! Wie weit wird es noch sein? Bist du rechtzeitig in Würzburg?“
„Ja, selbstverständlich bin ich rechtzeitig in Würzburg.“
Ich beginne zu verstehen, dass jede Zeit die rechte Zeit ist, wenn ich sie akzeptiere. Außerdem, heute ist erst Freitag und die Supermärkte haben bis zwanzig Uhr geöffnet, sodass ich sogar noch einkaufen kann. Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Durch das Internet habe ich bereits von dem kleinen Zeltplatz des Würzburger Kanu-Klubs erfahren. Da ich keinen Stadtplan habe, versuche ich, mich an Wegweisern und Übersichtstafeln zu orientieren. Auf dem Fahrradweg werde ich von einem gut bepackten Radwanderer mit Tochter überholt. Ich frage die beiden nach dem Zeltplatz und es stellt sich heraus, dass sie auch dahin wollen. Da hänge ich mich einfach dran und mein Problem ist gelöst. So einfach ist es, mit dem Strom des Lebens zu schwimmen.
Der Zeltplatz ist ein kleiner, aber feiner Platz direkt am Main. Ein Teil des Platzes ist für Dauercamper mit Wohnwagen reserviert. Auf der großen Wiese stehen schon einige Zelte. Ich suche mir einen Platz mit Blick auf den Main. Neben mir kampiert ein Vater mit seinen Kindern, ein Junge und ein Mädchen, sechs und zehn Jahre. Er ist sehr kommunikativ und wir kommen schnell ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass es ein verlassener Vater ist, der jetzt seine Kinder für ein paar Urlaubstage von der Mutter abgeholt hat. Er vertraut mir an, dass es ihn noch immer schmerzt, von ihnen getrennt leben zu müssen und wie sehr er das Zusammensein mit ihnen während dieser kurzen Urlaubstage genießt.
Ich stelle mein Zelt auf und zahle meine Übernachtungsgebühr beim Zeltplatzwart. Bei ihm kaufe ich auch noch ein Bier. Er bietet mir eine Abendmahlzeit an, die ich jedoch dankend ablehne. Es gibt einen Supermarkt, der nicht leicht zu finden ist und zu dem ich durch die halbe Stadt fahren muss. Dort kaufe ich ein paar Lebensmittel ein. Ich nehme auch eine Kinderluftmatratze mit, die aber bereits beim Auspacken ein Loch hat. Dummerweise habe ich keinen Kassenzettel mitgenommen. So werde ich also wieder nur auf meiner Schaumgummimatte schlafen.
Als Abendessen gibt es Kartoffeln und Quark mit frischen Kräutern von der Wiese. Eine Weile sitze ich noch draußen und schaue auf den ruhig dahinfließenden Main, schwatze noch ein bisschen mit dem Nachbarn. Ich fühle Zufriedenheit in mir. Es gibt nichts, was ich mir jetzt noch gewünscht hätte. Ich lobe mich dafür, den Daunenschlafsack mitgenommen zu haben, denn ich merke schon, dass auch heute die Nacht wieder ziemlich kalt wird. Die dreiundachtzig Kilometer in den Beinen lassen mich schnell müde werden. Bald nach dem Dunkelwerden krieche ich in mein Zelt, in dem ich wunderbar einschlafe.
Die Sonne steht am nächsten Morgen an einem makellos blauen Himmel. Als erstes nehme ich mir meine Beine vor, die ich mit einem Latschenkiefern-Gel kräftig durch massiere, um die Muskelverhärtungen zu lockern, was ziemlich schmerzt. Dabei komme ich mit Muskelpartien in den Oberschenkeln und sogar im Gesäß in Berührung, die mir sonst nie aufgefallen sind. Ich knete sie weidlich durch und kann spüren, wie sich die Verhärtungen lösen. Das sollte mir helfen, auch die heutige Tagesetappe ohne Konditionsprobleme zu bewältigen.
Nun nehme ich mir die Zeit, mit dem gepäckfreien Rad über den Main zu fahren und ein wenig von der altehrwürdigen Stadt zu sehen. Ich steuere erneut den Supermarkt an mit dem festen Vorsatz, mir endlich eine vernünftige Isomatte zu kaufen, die den noch vor mir liegenden, größten Teil meiner Reise überstehen soll. Die finde ich tatsächlich nach einigem Suchen in dem schwer überschaubaren Angebot dieses Riesenmarktes. Die selbstaufblasende Matte ist in der Länge zusammenlegbar, sodass ich das handlich leichte Paket unter dem Schlafsack in der hinteren Packtasche verstauen kann. Jetzt bin ich perfekt ausgerüstet und kann ziemlich spät am Vormittag meine Weiterreise antreten.
Sie führt zunächst nach Ochsenfurth. Es gibt so viele hübsche Städte mit gut erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtkernen, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte. Ochsenfurth ist so eine Stadt und ich freue mich, dass ich sie kennenlerne. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich bereits in Bayern bin, ist das jetzt unübersehbar. Die Menschen in Trachtenkleidung, das Weißbier auf den Tischen und die frischen Weißwürste im Angebot der kleinen Schänke, an der ich Halt mache, weisen mich darauf hin. Dem verlockenden Angebot kann ich nicht widerstehen und bestelle mir die Weißwürste mit einem Hefeweizen. Sie schmecken mit dem süßen Senf und der Brezel köstlich und das kalte Weißbier vollendet den Genuss. Ich blicke in fröhliche Gesichter in sonntäglicher Kleidung, freue mich über die bunten Trachten. Hier könnte ich durchaus noch eine Weile bleiben, doch ich ermahne mich zur Disziplin und radle durch den Stadtkern weiter in Richtung Aub.
Auch nach Aub führt ein Radweg, der „MTF8“. So jedenfalls steht es auf den Hinweisschildern und in meiner Karte. Ins Deutsche übersetzt bedeutet das: Main-Tauber-Fränkischer Rad-Achter. Da bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Bezeichnung fantasievoll oder sehr einfältig finden soll. Ich freue mich aber über die guten Orientierungsmöglichkeiten anhand der Beschilderung und bin alsbald in Aub, wo ich nochmal eine kleine Kaffeepause einlege. Die bietet mir die Gelegenheit, über mein heutiges Tagesziel nachzudenken.
Anhand meiner Übersichtskarte erkenne ich die Möglichkeit, bis Rothenburg ob der Tauber zu gelangen. „Ob“ bedeutet in dem Fall oberhalb, und ich muss schon von Weitem gemütlich an Rothenburg heranradeln, um diese Bezeichnung zu verstehen. Nach Creglingen gelange ich über den „ROSTR“, wieder so eine tolle Bezeichnung, diesmal für den Radweg Romantische Straße. Er führt mich durch das Tal der Tauber, von dem ich wahrhaft begeistert bin. Düfte von Gras und Flieder empfangen und begleiten mich. Ein lauer Frühlingswind bringt im Verein mit der milden Frühlingssonne mein Herz zum Singen. Der anschließende Liebliche Taubertal-Radweg, so heißt er wirklich und wird auch so beschildert, verdient seinen Namen in der Tat. Ich genieße die Fahrt durch das sich lang dahinstreckende Tal, ehe ich unversehens in Sichtweite des berühmten Ortes gelange und nun tatsächlich feststelle, dass er auf einem Felsenmassiv „ob“, also oberhalb der Tauber liegt.
Mir bietet sich ein eindrucksvoller Anblick, den zu erleben ich in tiefster DDR-Realität nicht zu hoffen gewagt hätte. Ich bin dankbar für die Wende, die mir heute, fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, dieses Erlebnis erlaubt.
Es ist kurz vor sechs Uhr, als ich mich dem Detwang-Camping nähere, das kurz vor Rothenburg liegt, um dort mein Zelt aufzustellen. Ich frage nach einem Supermarkt und erfahre, dass ein solcher in der Stadt noch bis zwanzig Uhr geöffnet hat. Dorthin fahre ich, so wenig Lust meine Beine auch darauf verspüren, aber ich muss unbedingt noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Im Abendessen sehe ich meine einzige Chance, Kalorien für den nächsten Tag in mir zu bevorraten, wobei mir bewusst wird, dass ich trotzdem von den körpereigenen Reserven zehre. Hoffentlich nehme ich nicht zu viel ab. Bei siebenundsechzig Kilogramm Ausgangsgewicht bliebe da nicht viel von mir übrig.
So besteht mein Abendmenü aus Kartoffelsalat mit Kasseler Koteletts, einem Radler und einem Viertel Riesling. Es schmeckt vorzüglich, ich bin mir schließlich selbst der beste Koch und ich werde ausreichend satt.
Mit Dunkelwerden krieche ich in meinen Schlafsack auf die neue Isomatte. Endlich habe ich gefunden, was ich wirklich brauche und bin begeistert. Von dem harten Grasboden des Platzes spüre ich nicht das Geringste. Diese Matte war ein guter Griff, sie ist handlich und im aufgeblasenen Zustand mit ihren drei Zentimetern Dicke eine geeignete Unterlage. Sie soll mich bis zum Ende meiner Pilgerreise begleiten.
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