Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die Nacht doch nicht so gut verlaufen war, wie ich es erhofft hatte. Das hängt weniger mit der Kälte zusammen, die mir nichts anhaben konnte, als vielmehr mit der dünnen Schaumgummiunterlage. Ich habe durch sie hindurch den harten Boden sehr deutlich gespürt und bin deswegen immer wieder aufgewacht. Da ist Abhilfe erforderlich, sobald sich dazu die Gelegenheit ergibt.
Doch jetzt ist erst mal das Frühstück dran. Es beginnt mit einem großen Löffel Haferflocken und einem mit Leinsamen, die ich mische. Mit dem Wasser, das ich auf meinem Gaskocher heiß gemacht habe, entsteht so mein Müslibrei. Der Kocher ist ein Aufsatz, der auf der Kartusche mit dem Propan-Butangasgemisch sitzt und verriegelt wird. Das ist wirklich eine prima Erfindung, leicht und gut handhabbar. Mein alter Benzinkocher ist wesentlich schwerer, braucht Benzin und zum Anwärmen Brennspiritus. Das macht seine Handhabung aufwändig. Dennoch liegt er noch als Reserve in meiner Campingkiste. Ich konnte mich noch nicht gänzlich von ihm trennen, da er hat mir treu und zuverlässig auf meinen Bergfahrten gedient hat.
In der Tasse mit dem heißen Wasser hängt der Teebeutel, den ich jetzt herausnehme und ausdrücke. Ich esse zum Müsli einen Apfel und eine Kiwi und danach einige Brotscheiben mit Butter, Käse und Marmelade. Zu meiner Fahrradverpflegung gehören auch Espresso-Sticks und einige Portionen Kaffeesahne. Es fehlt an nichts und das macht mir schon am Morgen gute Laune. Dafür benötigt der ganze Aufbruch einschließlich Frühstück aber auch seine Zeit. Mir fehlt noch die Übung. Obwohl ich schon sechs Uhr aufgestanden bin, ist es schon Viertel nach acht, als ich den Campingplatz Richtung Würzburg verlasse.
Es fährt sich ruhig und gemütlich auf dem Main-Saale-Radweg nach Schweinfurt. Er ist gut ausgeschildert. Ich habe mir vorgenommen, auf dem äußeren Ring der Stadt zu bleiben und das Zentrum auszulassen. Für Würzburg möchte ich mir etwas mehr Zeit nehmen. Es ist unmöglich, jede interessante Stadt am Pilgerweg näher zu erforschen, das habe ich schon bei der Vorbereitung meiner Reise feststellen müssen. Deshalb begnüge ich mich jetzt mit Eindrücken von Schweinfurt, von den Menschen und dem Verkehr. Alles das macht eine Stadt lebendig, verleiht ihr Charme oder lässt sie hektisch erscheinen. Ich versuche, die Momente aufzunehmen, die mich in Schweinfurt berühren und da ist vieles: der fließende Verkehr, die rastlosen Menschen, die über die Straßen und Plätze eilen, zielgerichtet und erfolgsorientiert, nicht nach links oder rechts schauend, und da bin ich, mittendrin auf einem großen Parkplatz im Einkaufszentrum. Ringsum begrüßen mich Geschäfte und Märkte mit vertrauten Namen.
„Bist du nicht auch erfolgsorientiert? Was ist dir denn wichtiger, der Weg oder das Ziel? Nicht Rom, das liegt in weiter Ferne, nein, dein Tagesziel. Vergisst du in deiner Orientiertheit auf das Ziel nicht auch, den Weg wahrzunehmen mit seinen Besonderheiten? Achtest du auf die Stimmung des Wegs, auf seine Energie? Spürst du sie als Tourist, als Weltenbummler oder als Pilger?“
„Im Moment spüre ich da keinen Unterschied. Wenn ich akzeptiere, dass ich unterwegs bin, wird die Stimmung meines Wegs sichtbar in den Bäumen am Weg, den Wiesen und Feldern, den Häusern, dem Himmel, der alles überspannt. Ich fühle sie im Wind, der mich mal hindert und mal vorantreibt, der mir Staubkörner in die Augen weht und den schweißnassen Rücken kühlt. Ich kann die Strahlen der Sonne spüren, die meinen unterkühlten Körper wieder erwärmen, wenn ich aus dem Schatten der Bäume heraus in das helle Licht gelange.“
„Fühlst du deine Verbundenheit mit dem, was dich umgibt? Erkennst du darin auch deinen eigenen Ursprung?“
„Ich kann darauf weder mit einem ‚Ja‘ noch einem ‚Nein‘ antworten. Ich fühle noch große Anteile des Touristen in mir, der eine Leistung zu erbringen, ein Tagesziel zu erreichen hat, um am Ende stolz darauf zu sein. Dabei ist es das gerade nicht ist, was mich auf den Weg gebracht hat. Das sollte alles Nebensache sein. Zur Hauptsache bin ich noch nicht vorgedrungen. Doch danke ich dir für den Hinweis.“
„Versuche nicht, etwas zu erzwingen, was du nicht fühlen kannst. Das, was du jetzt fühlst, ist wichtig und wird dir den Weg weisen. Lass dir dafür die erforderliche Zeit. Es geht nicht darum, das alte Ziel durch ein neues, spirituelleres zu ersetzen. Ein solches Streben führt dich auf den Holzweg, in eine neue Rolle. Hol den Zettel von Moni aus der Tasche. Begreife ihren Hinweis als den Weg, der vor dir liegt. Es ist kein Zufall, dass du ihn bekommen hast. Es geht nicht um das Tun, sondern um das Lassen.“
„Als sie mir dieses Kärtchen gab, habe ich mich darüber als ein Zeichen ihrer Zuwendung gefreut: ‚… das Leben sein lassen!‘. Dass es mehr ist als das, erfahre ich jetzt. Ich ahne auch, dass du dahinter steckst, wie üblich, und glaube mir, ich bin dankbar dafür. Oft vergesse ich dich, bin von dir vollkommen abgeschnitten, doch dann merke ich irgendwie: Du bist da, du bist bei mir, meine Seele.“
„Das bin ich in der Tat und es wird der Moment für dich kommen, in dem du dich von mir nicht mehr unterscheiden musst. Im Augenblick des Eins-Seins, in dem du dich selbst als deine Seele erkennst und fühlst, weißt du, wer du wirklich bist. Unser Dialog ist ein Übergangsstadium, das durch deine Akzeptanz ermöglicht wird, eine Seele zu haben. In der vollkommenen Gewissheit deiner selbst ist dir beschieden, diese Seele zu sein. Du wirst dann in deiner Körperlichkeit, in deinem Dasein zum Ausdruck dieser Seele und bringst Liebe und Licht in die Welt, ohne etwas tun zu müssen. Dann ist die Seele, die du bist, nicht länger ‚deine‘ Seele. Du erfährst dich als untrennbarer Teil des Universums, des göttlichen Geistes hinter allen Formen.
Das ist kein Akt des Verstehens, sondern eine Erfahrung des fühlenden Erkennens jenseits des Verstands. Solange dich dein Verstand beherrscht, kann dieses Erkennen nicht stattfinden. Doch du bist auf einem guten Weg. Überlass dich ihm und sieh, was passiert.“
Ich fühle, wie sich eine dankbare Zustimmung in mir ausbreitet. Rings das lärmende Treiben und in mir der Frieden. Er vermittelt mir, dass jede Eile unnötig, jede Sorge überflüssig ist. Das Leben sein lassen, das ist die Wahrheit. Vielleicht ist es auch das Motto für meinen Weg. Langsam schiebe ich mein vollgepacktes Fahrrad über den Parkplatz. Da ist eine gute Stelle, ein Lampenmast, an dem ich das Rad mit dem Seilschloss sichern kann.
In einem Textilgeschäft kaufe ich noch einen Baumwollpulli, ein Sweatshirt, das ich beim Fahren gegen den Wind anziehen will. Mit dem kurzärmeligen T-Shirt ist es mir trotz meiner Weste zu kalt.
Ein Stück rechts von mir sehe ich eine Bäckerei und ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es bereits Mittagszeit ist. Ein Kaffee tut mir jetzt gut und die Butterbrezel dazu auch. Das heißt, ich habe nur die Brezel gekauft und eine Butterportion aus meinen Vorräten herausgefischt, die ich mit dem Klappmesser auftrage. Die Brezel schmeckt, auch wenn sie ein wenig zäh erscheint. Dass ich bei dieser Aktion mein schönes korsisches Klappmesser auf der Bank liegen lasse, fällt mir erst am Abend auf.
Nach Würzburg sind es noch fünfundfünfzig Kilometer laut Wegweiser des Main-Werra-Radwegs, den ich jetzt befahre.
Immerhin versuche ich, mich nicht selbst anzutreiben, sondern gelassen zu bleiben. Das bedeutet, das Fahren zu genießen, mich an meiner Kraft zu freuen, mit der ich mich vorwärts bewege und tief und bewusst zu atmen. Dabei nehme ich die wunderbare Landschaft wahr und in mich auf, durch die mich mein Weg führt.
Ich fahre nicht mehr, ich überlasse mich dem Fahren und bin deshalb frei von jedem Druck, etwas erreichen zu müssen. Das ist schon ein angenehmer Zustand, den ich aber nur eine gewisse Zeit aufrechterhalten und genießen kann. Dann kommt unweigerlich der Moment, in dem ich das Verbunden-Sein durch die Ablenkungen wieder verliere, mit denen mich mein Verstand bombardiert:
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