Jedoch solches traf nicht zu. Der Matthäus hatte einfach darauf vergessen. Maßen er nämlich als Lehrbub in kein Wirtshaus durfte, war er in die Grafentaverne gegangen und saß nun im Stübchen des Blasius Stocker bei einer dottergelben Biersuppe. Er redete nicht viel. Das Regengetraschel und das geile Getränk sowie das einförmige Gerede des Bräuknechts machten ihn ganz matt. Er warf sich auf die Liegestatt und schlief schon.
Daheim aber suchte die Frau Mutter das rote Parapluie. Zuerst eigentlich suchte sie den Brotlaib. Und Lukas, welcher gar niemalen eine Gelegenheit ausließ, ihr beflissen in die Speiskammer nachzuhüpfen, Lukas sagte neunmal in einem Atem: »Teufel, halt die Pratzen weg, sonst kömmt der Engel und haut dich weg!«
Weil aber dies nicht half, meinte er gescheit, es werde ihn wohl die Rögerl wieder eingesperrt haben.
»So frag sie«, befahl die Stralzin.
»In einem solchen Sauwetter muß ich zum Dreizipf laufen?«
»Ja, wie denn?«
»Lernen tut sie halt mit dem Matthäus«, entfuhr es dem Buben. Wie nun die Frau Mutter kein Wort darauf sagte, erschrak er baß und stellte sich alsogleich grauenhaft deutlich die brüderlichen Fäuste und den Brennesselbuschen der Rögerl für. Die Stralzin war über den neuentdeckten Bildungstrieb wenig erfreut. Wenn sie eine eigene Tochter gehabt, so hätte sie nicht einmal dieser gestattet, am lieben Sonntag zu tändeln, wohlgemerkt in einem Alter, wo man ein Jüngferl schon anhalten muß, daß es die Leibwäsch selber flickt und daß es anfängt, zwei Dutzend schneeweiße Modelstrümpfe für das Heiratsgut zu stricken. Und nun gar ein armes Ziehkind! Es war aus der Weise, zumal durch diese nichtsnutzige Lernerei auch eine frühe Liebschaft sich entspinnen konnte.
Sie wurde immer zorniger, sprach heimlich zu sich selbst und suchte ausgerechnet ihr rotes Regendach. Und je länger sie’s nicht fand, um so verdächtiger kam ihr die Geschichte für. Sie warf urblitzlich ihren Schurz von sich, ließ alles liegen und stehn und ging im ärgsten Guß ohne Kopftuch und Schirm fort … Das enge Gäßchen zwischen Berghammüller und Engelharscht hinauf bis gegen das Loherhaus. Sie hatte die Augen fast zu, weil der Wind scharfe Tropfen daherpeitschte, und so bemerkte sie lange nicht, daß die Rögerl ihr entgegenstapfte.
Das Kind war sehr bedrückt; es hatte einen grünen Strumpf in der Hand, welcher schon abfärbte, und es trug das Parapluie so dicht überm Kopf, daß die eisernen Spreizchen an der Schläfe ordentlich weh taten. Ihr Kittel hatte einen breiten und nassen Saum, zum Erbarmen. Die Regina wußte im Augenblick nicht, sollte sie bleiben oder davonlaufen; bis ihr einfiel, daß sie den Schirm ohne jeden Verlaub mitgenommen und daß sie schuld sei, wenn die Mutter Stralzin sich verkühle. Da nahm sich das Kind einen Anrand und reichte ihn zaghaft hin.
Die Stralzin machte blinzelnd die Augen auf und sagte:
»Da gehst her!«
Alsdann drehte sie sich in ihrer ganzen Stattlichkeit um. Die Rögerl wurde noch trauriger, duckte sich tiefer und ging mit dem zunderroten Regenschirm gar weh- und demütig hinterdrein. Schon beim Egger Roßstall brach die Frau Mutter das grausige Schweigen.
»Das sind schöne Stückeln, Fratz du!« sagte sie über die Achsel. Die kleine Ziehtochter blieb mäuschenstill, beharrlich tropfte der Regen von der Sonntagsschürze; vielleicht daß auch ein Tränlein nieder auf die Gasse rann …
Beim Engelharscht stellte sich die Stralzin unter den vorspringenden Gang, schaute die Dirn von oben bis unten an und beutelte ihr die Kleider aus, daß es nur so spritzte. »Schad ums Gewand«, murrte sie endlich. Das Kind wollte ihr den Schirm wieder hinreichen und bat:
»Aber Frau Muatter!«
Doch Constantia Stralzin verspürte an sich die Nässe und das Unwetter nicht, und nur aus einer ganz unbewußten Gewohnheit raffte sie die weiten Röcke und trat von Stein zu Stein und räsonierte, bis sie nach Hause kamen.
»In der Kuchel«, sagte sie alsdann zur Stalldirn, zur Kellnerin und zum Fleischburschen, die einträchtig auf der Ofenbank saßen und plauderten, »in der Kuchel«, sagte sie, »kann ich hiazt niemand nit brauchen; fahrts ab!«
Das Mannsbild machte einen Brummler, und die Kellnerin stieß einen Kübel um.
»Ah so!« schimpfte die Frau Mutter, den Schurz bindend, »ah, da schau her! Därf eins im eigenen Haus nimmer anschaffen.« Und sie stellte sich vor die Dienstboten hin, donnerte sie zusammen.
»Hiazt wird’s mir zu dumm«, meinte der Fleischknecht. »Am kleinen Frauntag geh ich, daß Ihr’s wißt, Stralzin.«
Und die Dirn und die Kellnerin kündigten ihr auch.
»Gehts nur!« rief ihnen die Frau Mutter nach, »ist mir recht.«
Und wie nun die Dienstleut aus der Küche verschwunden waren, zog sich das Gewitter gegen die Ecke hin, wo die Rögerl armselig und erschrocken herstund. Die Frau Mutter schlug ihr nochmals den Kittel aus und lamentierte:
»Da hört sich alles auf. Schamst dich nit? Bist ein Schulmeistertöchterl und ziehst umeinander wie ein Zigeunermensch. Auf den Sunntag fangst mir einen Glockenzug an mit Kreuzelstich und Perlnähterei. Merk dir’s!«
Das Kind nickte steif und traurig und sinnierte, ob es wegen dem Regenparapluie oder wegen der Studi wär. Es sagte leise:
»I hab ja nit denkt, daß es gefehlt ist.«
»So?« sagte die Stralzin, durch die bittere Kümmernis solcher Worte ein wenig besänftigt, »aber hiazt weißt es, Rögerl. Tu mir nie Unrechtes nit, sonst müßt ich dich wegjagen … Du breder Nigel, du!«
Die Rögerl erschrak noch ärger. Sie dachte nicht so sehr darüber nach, was für ein Unrecht gemeint sei. Und wenn der liebe Gott, der Herr Pfarrer und die Mutter Stralzin auch hie und da eine Unterweisung zur Tugend gegeben, so hatte sie diese mit ihrem frühreifen Köpfchen wohl begriffen, doch ihr unschuldiges Herz war noch allzu jung und streifte mit sieben Schleiern daran vorüber. Sie dachte also nicht an die Sünde, sondern an die Straf, durch welche alle Herrlichkeit, nenne Kipfelkoch, Butterkrapfen, Bratel, eingesottene Zwetschken, ihr Bett mit der federweichen Hülle, die Spieluhr zum Aufziehen und alle Herrlichkeit konnte verlorengehen. Ihr wurde siedig heiß und eiskalt, und sie begann herzhaft zu weinen. Da verschluckte die Frau Mutter aufseufzend den weiteren Teil der gut überlegten Predigt, drehte sich gegen den Herd, schürte tüchtig das Restchen Glut auf der Feuerstell und rückte die Milchsuppe herzu, welche seit einer langen Weil unter dicken Hautschrümpfen abgekühlt war. Schließlich fiel ihr wiederum der Brotlaib ein, und sie frug, noch immer grollend, wo die Rögerl ihn hingetan habe. Allein wie die Stralzin aufhorchte, wurde sie einer recht merkwürdigen Stille gewahr, und indes sie sich nach dem Winkel umwandte, konnte sie dortselbst keine Regina mehr erblicken. Solches stimmte sie nachdenklich. Sie setzte sich breit zur hülzernen Herdbank, goß die Suppe in ein tönernes Schüsselchen, und während sie mit dem geschnitzten Beinlöffel vorsichtig umrührte, und während sie blies und kostete, wuchs ein schweres inniges Unbehagen von irgendwo in ihr Gemüt hinein.
»Ach, eine Suppen ohne Brocken …
Und ein Dirnlein ohne Docken …«
So sprach sie bei sich selbst, und es machte dieser unschuldige Reim auf ihre grade und einfache Hausfrauenseel immerhin Eindruck, wennschon man nicht feststellen kann, ob sie ihn irgendwo zusammengeklaubt oder im besagten Augenblick erdichtet hat. Sicher ist, daß die Mutter Stralzin weder früher noch später einen Hang zur Poesie gezeigt hat, daß aber jedesmal nach hitzigstem Zorn die bessere Einsicht erst zag, dann laut und lauter pochte, und daß sie im vorliegenden Fall erwog, wie die Rögerl blitzdumm und kindisch genug wäre, um den Matthäus für ein großmächtiges Spielzeug anzuschauen; welchem Unfug man mit Klugheit beikommen müsse. Und daß sie ferners erwog, wie alle Dienstleut heutigestags nichts mehr nutz wären, indem sie keine Lehren und Vorwürf und keinen wohlgemeinten christlichen Zuspruch mehr aushielten. Die Mutter Stralzin bedauerte es und nahm sich heilig für, nimmer so grob zu schimpfen, und wenn es schon nicht das erstemal gewesen, sollte es gewiß das letztemal sein; daß sie, so wahr und ehrlich sie gelobte, auch wieder fehlen werde, bedachte sie nicht. Es gehörte eben zum Sorgerischen Erbteil, daß die Wirtschaft und die Erziehung sie manches Mal aber schon gewaltig aus dem Häusel brachten, daß sie in Abwesenheit ihres Eheherrn die Leut nach Noten herunterkanzelte und diesem oder jenem einen Tiegel nachschmiß. Deswegen ist jedoch niemals ein Dienstbot vom Haus geschieden, und wann einer aufkündigte, so hatte dies sicher seinen gewichtigen Grund.
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