Je älter er wurde, um so mehr segnete er dieses einspännige Leben, und insonderheit zu Neujahr, wann er dem Bruder in einem hänfenen Säcklein das ganze Geld hinübertrug und vor Gott und den himmlischen Heerscharen hätte beeiden können, daß kein Kreuzer gestohlen, kein Kübel Malz verfault sei – dann überlief ihn ein Gefühl der Sorglosigkeit, das ihn nach und nach einschläferte, und sein letzter Gedanke vor dem ersten Schnarcher war ein Vergleich zwischen sich selbst und seinem Halbbruder Andreas, und solcher Vergleich fiel jedesmal zu eigenen Gunsten aus.
Er ließ sich wohl geschehen; doch er besaß ja sonst wirklich nichts auf der Welt. Auch Regina fand seinen guten Appetit verzeihlich. Sie betrachtete voll Geduld die bunten Glasmalereien, welche er einem böhmischen Hausierer abgehandelt hatte. Sie hingen beide über der zerknüllten Bettstatt. Ein Bild stellte die heilige Genoveva dar, in zinnoberrotem Kleide und blauem Mantel. Ihr nackend Söhnlein, so auf einer Hirschkuh geritten kam, erhob die Hände bittend zum grausamen Ritter Golo. Das zweite Bild zeigte Elisabeth von Thüringen unter einer Strahlengloriole, den Kopf geneigt und im geschürzten Überkleide zwölf Rosen, jede einzeln mit Krone, Blatt und Stengelein gemalt.
Ferner waren auch noch der Kasten sowie eine roh gezimmerte Wandertruhe, ein Kupferkrügel, das schon manchen Bug hatte, und eine schmiedeeiserne Laterne sein eigen. Lauter Erbstücke seiner seligen Mutter, der Maria Stockerin, die Anno 1762 mitsamt der Almhütten unter einen Erdrutsch gekommen war.
Sonst gab es wenig zu bestaunen. Regina näherte sich auf ihrem Rundgang schon wieder der Tür, die vom Alter gebeizt und wurmstichig war; sie probierte das Schloß und stellte sich auf die Zehen, weil ziemlich hoch im Türstock das Blechrelief eines Papstes mit vier Schuhnägeln angeschlagen war. In diesem Augenblick trampelte jemand die Stiege herauf, gegen die Kammer. Das Dirndel schoß jählings zurück, und Blasel schoppte schmatzend das Wurstende mitsamt der Hanfschnur in den Mund, als Lukas auf ihn losfuhr und schrie, daß der Herr Vater schon mißlaunig sei.
»Ah ja!« entgegnete Blasel kauend, setzte sich aber alsogleich in Gang, und als sie zu dritt beim Tor des Bräuhauses herfürkamen und die paar Katzensprüng zum Stralzen hinter sich brachten, erblickten sie bei dem einen Fenster des Tafelzimmers den Herrn Vater, bei dem andern Matthäus. Nur Markus hatte sich bockbeinig nicht von seinem Platz gerührt, wo er sich vor einer guten Viertelstunde aufgestellt hatte.
Es waren inzwischen einige gewichtige Worte gefallen. Der Herr Vater hatte, auf und ab schreitend und hiebei das Zimmer betrachtend, zu seinen Kindern gesagt:
»Wir wissen noch nit, welcher dermaleins Stralz wird. Nach menschlicher Voraussicht ist wohl anzunehmen, der Matthäus. Aber auch für euch wird gesorgt werden. Merket, nit jeder hat das Glück, daß er in einer reputierlichen Familie auf die Welt kömmt. Ihr sollts das einschätzen.«
Die Buben stunden unbeweglich da, und der Herr Vater betrachtete die Stube. Er liebte sie, weil sie nicht von beschwerlichem Reichtum, sondern von Wohlstand zeugte. Sie hatte hundertjährige steife Sessel und einen ovalen Tisch aus fein poliertem Holz. Über dem Damastsofa hing ein Spiegel, goldgerahmt und von allerklarstem Schliff. Stehkasten und Kornmode stammten augenscheinlich aus Maria Theresiens Zeit; sie waren breit und massiv und mit eingelegten Furnieren mattflammig geziert. Auch der Gläserkasten stand darin, welcher die gediegenen Hochzeitsgeschenke der Familie, allerlei künstlichen Blumenschmuck und die Bibel enthielt. Zwischen den Fenstern nach dem Obstgarten zu hingen nebeneinander die drei Lehrbriefe des Herrn Andreas Stralzen. Und auf der Kommode tickte die Bronzeuhr mit dem Schäferknaben.
Vater Stralz liebte diese Stube, weil sie groß und räumlich war, weil der grüne, in ein knopfiges Türmchen auslaufende Kachelofen im Winter gut heizte und weil man, ohne die Einrichtung viel zu rücken, gut noch drei lange Tische aufstellen konnte, wenn bei festlichem Anlaß die Vettern, Muhmen, Basen und die ganze Freundschaft zu einer Tafel hergeladen ward. So groß und räumlich war das Zimmer.
Er liebte es mehr noch aus einem andern Grunde. Wo die Mauer gegenüber der Straßenseite sich zu einem flachen Gewölb vertiefte, stand, von weichen, faltigen Gardinen umsäumt, eine Bettstatt mit vier schlank gedrechselten Säulen, so einen Himmel trugen. Das Bild über dem Kopfende zeigte die Mutter Maria, wie sie nach der Empfängnis über das Gebirge zu Elisabeth wandert. Unterhalb stellten noch frischere Farben ein Knäblein dar, in Windeln gehüllt, lächelnd und unschuldig. Und einen seltsamen Spruch gab es dortselbst zu lesen:
»Hier lig ich als Kint,
Bis ich Aufsteh und Straff die Sündt.«
Der Herr Vater liebte dieses Bett. Er schob den Fürhang zurück und zeigte es den Söhnen:
»Euer Großvater«, sagte er, »euer Muhm, die Schlosserin, die Vasoldin zu Stainach, euer Urgroßvater, dahinter die Stammältern, Glied um Glied, ich selber, meine Brüder und Schwestern sind darin geboren!
Nur der Blasel nit, drum ist kein richtiger Stralz aus ihm worden.
Bedenkt es und schätzt es ein.«
Weil aber der Herr Vater seine ganze Gedankenreihe ihnen vorenthalten und nur den Schluß hinsagte, daß es ohne Zusammenhang ausschaute wie ein Stern am lichten Tag, und weil seinen Buben die Geschichte dieses Bettes längst nicht mehr neu war, blieb sie naturgemäß ohne Wirkung. Der Stralz hatte es bemerkt, hatte den Kopf geschüttelt und, nachdem er einige Male durchs Fenster gesehn, den Lukas in die Taverne geschickt.
Nun waren sie herbeigekommen. Auch die Regina. Sie fühlte sich wie eine Schwester verpflichtet, den Stralzensöhnen in guten und bösen Stunden beizustehn, insbesonders bei denjenigen Ereignissen, welche bedrohlich und entscheidend über ihre drei strohblonden Schädel dahinschwebten. Eng an den Kachelofen gedrückt, der auf den vier Messingfüßchen solid und behäbig wuchtete, lehnte das Dirndel da, spreizte die Augen, und das Herz tickte hell und schnell mit einem leisen Unterton, so wie die Schäferuhr im Glasgehäuse, welche sie aufziehen durfte, wann die Frau Mutter es vergessen hatte …
Die beiden Männer setzten sich. Jetzt erst wurde durch Gegenüberstellung mit dem Halbbruder erkennbar, wie sorgsam gekleidet, wie wohlgepflegt der Stralz war. Selbst Blasel, dem kein Neid und kein Feingefühl wehtat, erkannte den Unterschied. Er setzte sich nur zögernd auf den Lederpolster und nahm von diesem nur die Hälfte in Anspruch, wie es sich für ihn auch schickte.
»Blasel«, sagte der Herr Vater, »morgen nimmst den Markus in die Lehr. Er muß dir in allem folgsam sein; er muß grob arbeiten wie jeder Knecht! Verstanden?«
Blasius Stocker nickte. Der Sohn aber bekam einen starren, aufgebrachten Blick. Ganz trostlos war ihm zumute wie bei einem Abschied. Wenn das Studium und die gepflegte Sprache in der Benediktiner-Abtei irgendwelchen Rest hinterlassen hätte, so möchte er vielleicht große schwingende Jünglingsworte von sich geschwätzt haben, daß Fuhrwerk, Vieh und die freie Weide sein liebstes wären, daß er möcht pflügen und dreschen mit strenger Faust, die lebfrischen Öchslein aufzügeln und die feist gemästeten Schweine stechen und vierteln in stattlicher Zahl. Denn wie in der Natur allerorts Leben und Tod, Mitgefühl und Brutalität einander die Waage halten, so geschah es auch in dem sehr natürlichen Vorstellungskreis dieses halbwüchsigen Buben. Nur daß ihn gerade im Zustand hilfloser Abwehr und Not das krasseste Bild am meisten anzog. Es war wirklich wie ein Abschied. Vergeblich tappte er nach einem Wort, das ihn erlösen sollte. Sein Gesicht wurde rot bis ins Stirnhaar. Seine Augen wurden dunkel vor Trotz. Er sagte, einen Schritt vortretend, ganz heiser:
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