Auf neutrale Gefühle reduziert
Es gibt einen einfachen Grund, warum uns ein offener Umgang mit Gefühlen, eine Änderung unseres Verhaltens, so schwerfällt: Wir sind durch hundert- bis tausendmalige Wiederholung neurologisch und biochemisch darauf programmiert worden, unsere Gefühle zu zügeln oder zu verbergen.
Wie oft haben Sie folgende Sätze gehört: „Setz dich hin! Nicht so laut! Hör auf zu schreien! Gib endlich Ruhe! Warum weinst du schon wieder? Keine Schwäche zeigen! Du musst jetzt stark sein! Wovor hast du denn Angst? Lass das! Nicht so nah! Finger weg! Reiß dich zusammen!“
Jedes gewohnte Verhalten in unserem Leben ist auf Wiederholung gegründet. Wir putzen uns täglich mehrmals die Zähne, weil unsere Eltern uns unermüdlich und hunderte Male dazu angehalten haben. Wir verbergen aus demselben Grund aber auch unsere Gefühle.
Wie bereits erwähnt, die Regeln für unser Gefühlsleben sind über viele Generationen entstanden. Niemand trägt die Schuld und gewiss wollten unsere Eltern und deren Eltern nur das Beste für ihre Kinder. Sie haben uns mit viel Mühe und Liebe in Richtung kleine und neutrale Gefühle programmiert. Die Leistungsgesellschaft besteht mittlerweile auf eine solche gefühlsneutrale Professionalität – und krankt daran.
Auf „Ver-Halten“ programmiert
Gefühle wollen durch den Körper hinaus ins Leben. Der Begriff Emotion kommt vom lateinischen Wort „emovere“, was so viel bedeutet wie „hinausbewegen“ oder „ausagieren“. Aber genau diesen Ausdruck, dieses Ausleben haben wir nie geübt, im Gegenteil: In die Gehschulen der Kindheit verbannt und auf die Stühle der Jugendzeit gesetzt, haben wir viele Stunden täglich trainiert, unseren Bewegungs- und Ausdrucksdrang zurückzuhalten.
Freie, lebendige Bewegung ist uns fremd geworden. Wir gehen mit eingesunkenen Schultern im immer gleichen Takt. Wir jubeln nicht mit dem ganzen Körper und der ganzen Stimme, wenn wir einen Erfolg verbuchen. Wir schämen uns davor, zu zittern, wenn wir vor anderen eine kleine Rede halten, oder dafür, am Ende eines Kinofilms zu weinen. Wir sind nicht mehr ungestüm und schon gar nicht mehr ausgelassen.
Ängste, Scham und das Gefühl, peinlich zu sein, prägen allzu oft unser Innenleben, doch nach außen hin wird nichts davon sichtbar. Unser öffentliches Verhalten läuft wie auf Schiene und hinter Masken ab – und das Wort „Verhalten“ drückt tatsächlich aus, wie wir mit uns selbst umgehen.
Das Paradoxe daran ist: Dieses Verhalten kommt uns normal vor und lebendiger Ausdruck erscheint uns abnormal. Eine lebendige Form der Bewegung ist jedoch die Voraussetzung für einen intakten, gesunden und heilsamen Gefühlshaushalt.
Gefühle wachsen mit dem ihnen entsprechenden körperlichen Ausdruck. Nur wenn Gefühle sich frei durch Körper, Stimme und Sprache nach außen bewegen dürfen, bleibt man gesund und in seelischer Balance. Denn nur das entspricht dem natürlichen Fluss.
Auf Folgen gedrillt
Warum erregen so viele Kleinigkeiten des Alltags unser Gemüt? Warum lassen wir uns wieder und wieder von negativen Gefühlen unserer Umwelt anstecken? Warum reagieren wir überhaupt, wenn jemand uns beleidigt oder im Zorn überfällt?
Die Antwort ist ebenso einfach wie betrüblich: Wir sind darauf eingestellt, zu folgen, die Vorgaben anderer, Größerer, Älterer zu erfüllen, alten Regelwerken nachzueifern, aber keine neuen, eigenen zu kreieren. Wir haben sehr wenig bis gar keine Übung darin, unser Verhalten selbst zu bestimmen. Wir sind gedrillt darauf, zu folgen, nicht aber zu führen. Vor allem nicht uns selbst.
In den ersten Jahren unseres Lebens wurden Forderungen und Regeln schließlich immer von Erwachsenen geäußert, also von uns weit überlegenen Personen. Je negativer diese Äußerungen waren, desto bedrohlicher war die Situation und desto stärker hat unser Unterbewusstsein dies abgespeichert. Denn es folgt stets der ersten, innersten Direktive des Selbsterhaltungstriebes: Schütze dich und dein Überleben.
Ebenso schwer wiegt, dass wir mit Gefühlen zum Folgen erzogen wurden: Liebe, Zuwendung und Nähe gab es als Belohnung für das Entsprechen und Gehorchen. Je schneller ein Kind sich anpasst, desto eher gilt es fälschlicherweise als liebenswert, also der Liebe wert. Je stiller es ist, desto braver ist es. Eigensinn wurde häufig durch Ablehnung oder Strafe geahndet, Frechheit durch Zorn, freier, lebendiger Gefühlsausdruck durch harsche Zurechtweisungen.
Betrachten wir noch einmal die Schulzeit: Der tägliche Stundenplan ist vorgegeben. Was in den Stunden zu lernen ist, ist vorgeschrieben, ebenso die Dauer einer Unterrichtseinheit, die Art und Weise, wie eine Aufgabe zu lösen ist usw. Denken wir an den Beruf: Im Allgemeinen sind die Abläufe vorgegeben und auch das Wann, Wo und Wie. Wir haben uns perfekt daran gewöhnt, den Vorgaben anderer oder den Strukturen des Leistungssystems zu folgen.
Wir haben uns hingegen nie an Selbstbestimmung, an kreatives, eigenes Schöpfen oder an individuelles, freies Entscheiden gewöhnt. Es fällt uns viel leichter, einer Vorgabe, die von außen auf uns zukommt, zu folgen, als einen ersten oder nächsten Schritt aus eigenem Antrieb zu gehen. So reagieren wir oft viel zu schnell auf Einflüsse von außen. Wir nehmen die Außenwelt täglich völlig automatisch in uns auf und folgen ihren Vorgaben.
Es beginnt mit der allmorgendlichen Zeitung oder den Nachrichten: Wir saugen wie blind die Negativberichte der Medien auf, käuen sie wieder, empören uns unbewusst und wie selbstverständlich über den Schrecken der Welt und beginnen unsere Tage mit Angst, Zorn und Zweifel. Es steht ja geschrieben. Und was geschrieben steht, kommt von den großen, älteren Wissenden. Wie in unserer Schulzeit. Wie im Kindergarten. Wie in den ersten Jahren unseres Lebens.
Wir sind an ein hohes Maß negativer Gefühle und Missstimmungen so gewöhnt, dass uns das normal vorkommt – wie wir es als normal empfinden, unselbstständig, unkreativ und fremdbestimmt unsere wahren Kräfte schwinden zu lassen und unsere Herzensanliegen zu verschweigen.
Neuronale Muster unterdrücken Gefühle und Körperausdruck
Worauf wir als Kinder und junge Menschen von unserem Umfeld programmiert wurden, ist schließlich zum festen Bestandteil unseres eigenen Denkens und Glaubens geworden. Wir denken selbst, dass es besser ist, Gefühle zu verbergen, misstrauisch gegenüber jedem und allem zu sein, Vorsicht walten zu lassen, statt etwas zu riskieren. Wir sind fest davon überzeugt, dass Entscheidungen vor allem aus dem Denken und Überlegen heraus gefällt werden sollten und nicht aus dem Bauch.
Wir unterdrücken unsere spontanen Gefühlseingebungen und körperlichen Ausdrucksformen. Wir sagen oft noch Ja, wo wir längst schon Nein schreien sollten. Wir bewegen uns ohne Esprit und unsere Hände hängen lasch an unseren Seiten herab oder verkriechen sich in die Hosentaschen.
Es ist nicht nur unsere Gesundheit, die unter dem falschen Umgang mit Gefühlen leidet, unser gesamtes Leben ist davon betroffen: Erfolg, Konzentration, Lernen, Ausstrahlung, Leistungskapazität, Lebensenergie – all diese Faktoren sind unmittelbar mit unserem Fühlen verbunden.
Ob Sie erfolgreich sind oder gerade von einer Krankheit genesen, den ganzen Erfolg und die ganze Gesundheit werden Sie erst erlangen, wenn Ihr Gehirn gelernt hat, auch Ihren Gefühlen zu folgen.
Vom Gefühlstabu zur Gefühlskrankheit
Gefühle sind das Stiefkind der Leistungsgesellschaft. Mancherorts beginnt langsam ein Umdenken, doch zumeist werden Emotionen nach wie vor zur Tabuzone erklärt, in die sich keiner zu weit hineinwagen darf.
Im Schulsystem beginnt das Umdenken langsam Früchte zu tragen. Doch es mangelt nach wie vor an der entsprechenden Ausbildung der Lehrkräfte – wie in der Berufswelt an der emotionalen Schulung vieler Führungskräfte.
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