Elementare körperliche Emotionen sind ebenso schon aktiv: Hunger, Durst, Schmerz oder Ekel. Schon nach wenigen Monaten nehmen die Gefühle dann weitere Formen an: Freude bis Euphorie oder Schmerz und Zorn. So wie sich unsere Bewegungsfähigkeit steigert, wachsen auch die Gefühle – bis hin zu einem fein verästelten Gefühlsbaum mit einer Vielzahl von Regungen.
Gefühle und Bewegung sind stark miteinander verknüpft. Eine Freude ist für ein kleines Kind nur dann wirklich groß und mitreißend, wenn es laut lacht, jubelnd seine Stimme erhebt, die Arme wild hochreißt und ausgelassen herumtollt. Gibt es hingegen Leid, kullern augenblicklich Tränen, weint das Kind bitterlich und schreit laut aus sich heraus, der ganze Körper krümmt sich im Schmerz. Das Bedürfnis nach Nähe, nach Gehalten- und Getragen-Werden setzt sofort ein und das Kind sucht den Schutz seiner Eltern.
Zorn ist bei Kleinkindern ebenso heftig, geht durch den ganzen Körper, wird mit tobenden Gesten ausgedrückt – aber nur, solange er erlaubt ist und nicht vom allzu oft mächtigeren Zorn der Eltern übertönt oder bestraft und dadurch vielleicht viel zu früh ausgetrieben wird.
Der Gefühlsbaum wächst mit den Monaten. Die Äste der Trauer, des Neids, der Eifersucht, der Scham entstehen. Gefühle von Liebe, Zugehörigkeit und Lust werden wach, Glück nimmt seine Form an und auch das Machtgefühl keimt. Doch die Entwicklung dieses Baumes und seiner späteren Früchte ist abhängig davon, was dem Kind während seiner ersten Lebensjahre zu welchem Zeitpunkt und in welcher Situation widerfährt.
Welches Verhalten ist wann erlaubt oder verpönt? Wann darf ein Gefühl frei ausgedrückt, wann muss es bereits sehr früh unterdrückt werden?
Auch genetische Faktoren sind bestimmend. Statur und Aussehen haben ihre Rückwirkung auf das Selbstgefühl, motorische Fähigkeiten spielen eine Rolle und ebenso kognitive Anlagen.
Ganz entscheidend ist dabei: Welche Gefühle werden in einer Familie gepflegt? Welche stehen wie oft „auf der Tagesordnung“? Welche dürfen wie intensiv und wann ausgedrückt und dadurch täglich eingeübt und biochemisch programmiert werden? Haben Gefühle überhaupt einen positiven Stellenwert oder werden sie meist nur als negativ, störend, aufdringlich oder fordernd empfunden?
Fest steht: Wer erwachsen ist, lacht, jubelt und singt nicht mehr laut aus sich heraus, wenn ihm danach ist. Die meisten Erwachsenen erheben auch nicht ihre Stimme, wenn sie zornig sind, schämen sich aber zumeist für ihre Tränen. Sie verbergen ihr Zittern, wenn sie sich fürchten. Sie sprechen nicht über ihre Ängste oder ihre Trauer. Ihre Körper bewegen sich zwar lange Zeit tadellos – aber zumeist monoton und „leblos“. Nahezu jeder Gefühlsausdruck geschieht kontrolliert oder wird verborgen.
Warum ist das so? Wer hat uns den Ausdruck der Gefühle verboten? Wer hat es den Generationen vor uns verwehrt? Vielleicht ist es geschehen, weil Menschen mit starken Gefühlen auch starke Persönlichkeiten entwickeln und selbstbestimmter handeln – und sich dadurch schwerer kontrollieren lassen? Oder weil Eltern häufig zu große Ängste um ihre Kinder haben bzw. fürchten, die Kinder könnten ihrem Einfluss entgleiten? Weil viele Führungskräfte Angst vor den wahren Gefühlen ihrer Mitarbeiter haben? Weil wir in einer Gesellschaft leben, die der individuellen Wahrheit wenig Raum lässt? Weil wir nie gelernt haben, unsere Gefühle zu verstehen, mit ihnen angemessen umzugehen und sie zu kontrollieren oder für unser Wohlergehen zu nutzen?
Es geht in diesem Buch nicht darum, die Kulturgeschichte der Emotionen zu beschreiben. Es drängt sich aber auf, die Hintergründe ein wenig zu beleuchten. Denn: Die Früchte des mächtigen Gefühlsbaumes, der sich in und mit uns entfalten wollte, verdorren in der Leistungs- und Konsumgesellschaft der sogenannten ersten Welt mehr und mehr.
Gefühle sind im Allgemeinen verpönt, werden unterdrückt, zurückgehalten und dürfen nicht nach außen dringen. Das jedoch widerspricht ganz und gar ihrer natürlichen Anlage und führt schrittweise zu Depression, Burnout und Demenz einer ganzen Gesellschaft.
Das Gefühlstabu in Schule und Beruf
Spätestens mit dem Beginn des Schulalltags, wenn wir etwa sechs Jahre alt sind, werden Gefühle von einem Tag auf den anderen für mindestens vier Stunden täglich gebremst. Es darf seltener gelacht und so gut wie nicht mehr geweint werden, Schmerzen oder Nervosität werden kaum beachtet, das Erlernen und die Wiedergabe von faktischem Wissen stehen im Vordergrund.
Mit dem Benotungssystem der gängigen Schulformen beginnen wir auch, uns selbst zu beurteilen und zu bewerten: Durch das Beurteilt-Werden treten wir in die Zeit des Beurteilens und Wertens ein. Schritt für Schritt agieren wir nicht mehr aus Freude oder Eigenantrieb, sondern aus Angst vor schlechter Leistung und aus vermindertem Selbstwertgefühl.
Welche Lebensinhalte aber haben tatsächlich Bedeutung? Welche schulischen Leistungen werden als besonders wichtig eingestuft? Welche Benotung erregt Aufsehen, wird vorgezeigt und mit Nähe und Liebe belohnt? Welches Versagen wird bestraft? Wird ein intaktes Gefühlsleben belohnt oder die intakte Anpassung an die Verhaltensweisen der Schul- und Leistungsgesellschaft?
Wir kennen die Antworten alle: Wir lernen, brav zu sein, uns anzupassen, durch Leistung aufzufallen, keine unnötigen oder störenden Äußerungen von uns zu geben und unsere Gefühle mehr und mehr zu verbergen – vor allem unsere Schwächen, Ängste und Nöte.
Können Sie sich daran erinnern, dass Ihr Lehrer vor einer Schularbeit die emotionale Befindlichkeit der einzelnen Schüler erhoben hat, um diese dann in die Benotung einfließen zu lassen? Hat man Sie darin geschult, mit Nervosität und Versagensängsten umzugehen?
Haben wir gelernt, unsere Gefühle wenigstens nachmittags lebendig ausdrücken zu dürfen – wenn sie schon vormittags im Unterricht störend waren? Haben wir gelernt, mit Gedanken, Worten und Bewegungen unsere Gefühle zu beeinflussen, um den Lebensalltag auch tatsächlich genießen zu können? Haben wir das Lernen je gelernt?
Wir haben uns im Turnunterricht eine Reihe von sportlichen Bewegungsabläufen angeeignet, aber nicht eine einzige sprechende, lebendige Geste unserer Hände! Wir haben gelernt, unsere Gefühle zurückzuhalten, bevor wir erfahren durften, wie sie sich ausdrücken lassen.
Gefühle werden mit Beginn der Schulzeit zum Tabu. Die Bildung des Geistes steht im Vordergrund – die Bildung des Herzens tritt zurück. Zugleich bestimmen Stress, Druck, Furcht und Konkurrenzkampf mehr und mehr den Alltag.
Im Berufsleben wird dieses Tabu dann fortgesetzt: Gefühle sind verpönt, sie haben fast oder gar keine Bedeutung. Wer seine Gefühle zeigt, gilt als sonderbar, hysterisch oder übersensibel.
Zwar leiden knapp 70 Prozent aller berufstätigen Menschen in Mitteleuropa unter Konflikten mit Kollegen oder unter einem schlechten Arbeitsklima, doch den Gefühlen, die sich dahinter verbergen, wird keine Beachtung geschenkt. Man nimmt eher in Kauf, krank zu werden oder dem Burnout zu erliegen, als die eigene gefühlsmäßige Wahrheit zu äußern oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Manche Menschen lässt dieser unausgeglichene Gefühlshaushalt zu tickenden Zeitbomben werden: Sie explodieren schließlich irgendwann. Andere wiederum schlucken ihre bedrohlichen Gefühle so lange hinunter, bis ihnen eine Depression jede Kraft und jeden Antrieb raubt.
Der Umgang mit Gefühlen ist für viele Menschen Neuland. Gefühle zu zeigen und auszusprechen fällt schwer, besonders wenn es um Schwächen oder Ängste geht.
Wir haben für viele alltägliche Lebensbereiche unser Handwerk gut erlernt: Wir können Auto fahren, Einkäufe erledigen, Smartphones bedienen, durch TV-Kanäle zappen, im Internet surfen, Bankgeschäfte erledigen, den Haushalt bewältigen etc. Doch mit unserem Innenleben können wir nicht umgehen. Für unserer Gefühle haben wir kein Handwerkszeug, obwohl jede Art zu scheitern, falls wir scheitern, von ihnen abhängt, denn: Gefühle sind das Leben selbst.
Читать дальше