Die Geschichtsforschung interessierte sich aber merkwürdig ungenau. Schon was die Mutter des neugeborenen Alois und Großmutter des Diktators Adolf Hitler betraf. Maria Anna Schicklgruber, geboren am 1. Juli 1796, hatte eine ältere Schwester namens Anna Maria, die am 15. April 1795 geboren worden war. 24 Im Hochdeutschen sind diese beiden Vornamen tatsächlich zum Verwechseln ähnlich und unterscheiden sich nur durch die Wortfolge. Im mundartlich-bäuer-lichen Alltagsgebrauch war das allerdings ganz anders: Anna Maria wurde »Annamirl« gerufen, Maria Anna hingegen »Mariandl«. Die nur des Hochdeutschen mächtigen Hitler-Biografen haben diese Vornamen immer wieder durcheinandergebracht und Alois entweder die ältere Anna Maria als Mutter oder zumindest der tatsächlichen Mutter Maria Anna die Geburtsdaten ihrer älteren Schwester zugeordnet. Das mag in den meisten Fällen nicht viel ausmachen. Es bedeutet aber bei Frauen einen gewissen Unterschied, ob sie im Alter von 41 oder 42 Jahren ihr erstes Kind zur Welt bringen. 25
Die Fehler begannen schon auf der im Sommer 1938 an der Kirchenmauer von Döllersheim angebrachten, heute nicht mehr vorhandenen Gedenktafel für Hitlers Großmutter mit dem Text »Hier ruht die Großmutter des Führers Maria A. Hitler, geborene Schicklgruber, geb. 17. April 1795 zu Strones, gest. 7. Januar 1847 zu Kl. Motten«, wo gleich zwei oder drei Fehler zusammenkamen: Das angeführte Geburtsdatum ist jenes der älteren Schwester Anna Maria, und auch das ist nicht einmal ganz genau, sondern um zwei Tage daneben, und »Hitler« hieß Maria Anna Schicklgruber nie, sondern nach der Heirat wie ihr Mann »Hiedler«. Auch das Grab selbst war ein Fake, weil es leer war. Seither schreiben fast alle Biografien von der bei der Entbindung im Jahre 1837 bereits 42-jährigen Hitler-Großmutter und verwenden das falsche Geburtsdatum. 26 Die dritte, jüngere Schwester Josefa (Pepi) Schicklgruber, verehelichte Trummelschlager, spielte nur am Rande eine Rolle, war aber der Grund, dass Maria Anna im Hause der Trummelschlager zur Entbindung kam. Daneben gab es drei überlebende Brüder namens Schicklgruber, und auch der alte Vater der Kindesmutter, Johann Schicklgruber, dem sie den Haushalt führte, war 1837 noch am Leben.
Die falsche Mutter und deren falsches Geburtsdatum sind aber nur das erste Missverständnis in einer langen Reihe. Die Spalte für den Vater blieb in der Döllersheimer Taufmatrik leer. Das nicht deshalb, weil Maria Anna keinen Vater genannt oder gewusst hätte, sondern weil es kirchenrechtlich bei unehelichen Kindern so vorgesehen war. Der Name des Vaters wurde nur dann nachgetragen, wenn das Kind durch eine spätere Heirat legitimiert wurde. Vermögensrechtlich hatte der Name des Vaters ohnehin keine Bedeutung, solange es keine Verpflichtung zu Unterhaltszahlungen für einen unehelichen Vater gab und uneheliche Kinder selbstverständlich auch von jeglicher Erbberechtigung ausgeschlossen waren.
So blieb die Frage nach Alois Schicklgrubers Vater offen und wurde, je wichtiger der Enkel Adolf wurde, immer mehr zum Gegenstand von Mythen, Erfindungen und Verwechslungen. Dabei ging es weniger um Berufschancen und Geld als um Ehre, Ahnenpässe und arische Herkunft. In den 1920er Jahren, als Adolf Hitler erstmals das Feld der Öffentlichkeit und politischen Bühne betrat, begannen sich nicht nur seine Anhänger, sondern noch mehr seine politischen Gegner für seine Herkunft zu interessieren: für seinen ursprünglichen Namen Schicklgruber, für die ungeklärten Familienverhältnisse, für etwaige inzestuöse Verbindungen und vor allem für mögliche jüdische Glieder in der Ahnenreihe. Der fanatische Judenhasser Hitler selbst ein Jude? Der Führer einer Partei, die auf den Ahnenpass so viel Wert legt, selbst mit einer mehr als dunklen Lücke im Stammbaum!
Als der Wiener Skandaljournalist János Békessy (Hans Habe) 1932 damit an die Öffentlichkeit ging, wurden viele andere zur Beteiligung an dem Suchrätsel angespornt, von Österreichs Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der mehrere seiner Hofräte in Bewegung setzte, bis zu verschiedenen Berufs- und Hobbygenealogen und Adabeis. Mehr oder weniger gute Ahnenforscher wurden tätig. Einer davon war der Wiener Friedrich von Frank. Am 29. Februar 1932 beauftragte ihn Hitler gegen ein Honorar von 300 Mark mit der Erstellung eines Stammbaums. Im April desselben Jahres wurde das Ergebnis vorgelegt. Ein Vorname in dieser Stammtafel fiel auf: »Katharina Salomon«, was auch in der Neuen Zürcher Zeitung am 16. Juni 1932 zu kritischen Kommentaren Anlass gab. Zwar hatte der Genealoge offenbar einen Fehler gemacht, den er umgehend korrigierte und die Katharina Salomon durch eine »Maria Hamberger« ersetzte. 27 Aber damit war den Spekulationen erst recht Nahrung gegeben. War das eine Gefälligkeit gegenüber dem Auftraggeber? Auch als ein anderer Genealoge, der Wiener Rudolf Koppensteiner, eine revidierte Fassung des Stammbaums erstellte, die alle Zweifel beseitigen sollte, half das nicht viel, weil dieser als weitschichtiger Verwandter Hitlers erst recht unter den Verdacht der Voreingenommenheit kam. 28
Es war der mit dem Genealogen Friedrich von Frank zufällig namensgleiche berüchtigte Gauleiter des Generalgouvernements Dr. Hans Frank, der in seiner 1945 im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis verfassten Autobiografie Im Angesicht des Galgens die Geschichte von Hitlers jüdischer Abstammung neuerlich aufwärmte: Ein Grazer Jude namens »Frankenberger, Frankenreiter (oder so ähnlich)«, bei dem Maria Anna Schicklgruber als Köchin gearbeitet habe, sei Hitlers Großvater. Die Behauptung war ohne viel Substanz, nicht nur weil Maria Anna wohl kaum in dem vom Waldviertel so weit entfernten Graz eine Beschäftigung angenommen haben wird, sondern weil es in Graz zu der fraglichen Zeit nicht nur keinen Juden mit dem Namen Frankenberger »oder so ähnlich«, sondern überhaupt keine Juden gab. 29
Auch Salomon Rothschild, der reichste Kapitalist im vormärzlichen Österreich, der in Internet-Foren immer wieder als Hitlers Großvater genannt wird und dem man einen etwas lockeren Umgang mit kleinen Mädchen zuschrieb, ist mit Sicherheit auszuschließen, nicht nur weil Maria Anna kein junges Mädchen mehr war, sondern weil Salomon sich im fraglichen Jahr gar nicht in Wien aufhielt. Aber ein Propagandaerfolg wäre es tatsächlich gewesen, hätte man den nunmehr berühmt gewordenen Politiker und berüchtigten Antisemiten als Sohn eines Juden oder gar eines so bekannten Juden und Inbegriffs des Reichtums wie Salomon Rothschild entlarven können. 30 Auch Adolf Pereira-Arnstein, den Ilse Krumpöck, die langjährige Leiterin des kunsthistorischen Referates im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum, vor einigen Jahren in einer skurrilen »Romanbiografie« ohne haltbare Quellenbelege als »Hitlers Großvater« hervorzauberte, wohl wegen des Namens Adolf, vielleicht auch, weil dieser sein Palais in der Renngasse 6 hatte, nur wenige Meter von Rothschilds Renngasse 3 entfernt, kommt nicht infrage, wobei sie schon auf der ersten Seite ihre absurden Theorien mit dem obskuren Satz gegen jegliche Kritik zu immunisieren versuchte: »Jedes zweite Wort ist wahr.« Krumpöcks krause Zusammenstellung ist von Andreas Kusternig eindringlich korrigiert worden. 31 Doch gegen Verschwörungstheorien ist nicht wirklich anzukommen. Sie geistern unausrottbar durch die Weltgeschichte und das Internet.
Auch Hitler selbst versuchte seine Herkunft zu verschleiern. Wie viel wusste er? Wie sehr war er psychisch dadurch belastet? In Mein Kampf gibt es nur zwei kurze, sich zudem widersprechende Sätze über die Vorfahren seines Vaters: »Als Sohn eines armen, kleinen Häuslers hatte es ihn schon einst nicht zu Hause gelitten …« und später, anlässlich seines eigenen Wienaufenthalts: »… immer das Bild des Vaters vor Augen, der sich einst vom armen Dorf- und Schusterjungen zum Staatsbeamten emporgerungen hatte.« 32 Er hat ausgerechnet bei diesen Sätzen sehr lange um die Formulierung gekämpft, ursprünglich hätte es »Häusler und Tagelöhner« heißen sollen. In welches Licht wollte und sollte er seine Herkunft setzen? In die schmerzliche Realität einer armen, niedrigen und ungeklärten Herkunft? Eines inzestuösen Verhältnisses? Einer Lüge?
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