Peter Fischer - Das Unbehagen im Frieden

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Die Schlagzeilen erreichen uns täglich und machen uns fassungslos: Warum filmen Menschen Schwerverletzte, anstatt zu helfen? Warum simulieren Millionen Kriegsszenen am Computer? Es gibt offenbar ein uraltes Bedürfnis, dem Leiden und Sterben anderer zuzuschauen – im Kolosseum, vor der Guillotine, im Internet.
Die moderne Gesellschaft, so aufgeklärt und überlegen sie sich vorkommen mag, hat die Rohheit nicht überwunden. Sie verwaltet oder verdrängt sie nur.
Gerade die lange Phase des Friedens und der Sicherheit in Europa könnte die Sehnsucht mancher nach Extremsituationen und Katastrophen befeuern. Neunzig Jahre nach Sigmund Freuds berühmter Studie über «Das Unbehagen in der Kultur» analysiert der renommierte Sozialpsychologe Peter Fischer den Zusammenhang zwischen Langeweile, mangelnder Empathie und Destruktivität.

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Friede macht Reichtum Reichtum macht Übermut Übermut bringt Krieg Krieg - фото 1

„Friede macht Reichtum, Reichtum macht Übermut, Übermut bringt Krieg, Krieg bringt Armut, Armut macht Demut, Demut macht wieder Frieden.“

Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510),

Straßburger Dom- und Volksprediger des späten Mittelalters

INHALT

Cover

Title

Einleitung

Evidenz 1: Gute Zeiten erhöhen den menschlichen Selbstwert und somit die Aggressionsbereitschaft

Evidenz 2: Menschen suchen im Risiko einen emotionalen Kick

Evidenz 3: Neurokognitive Gewöhnungsprozesse dämpfen die Wahrnehmung von Risiko, Leid und Zerstörung

Evidenz 4: Bedürfnis nach Stimulation und die Flucht aus der Langeweile

Evidenz 5: Menschen fühlen sich besser, wenn sie sich das Leid anderer ansehen (sozialer Abwärtsvergleich)

Evidenz 6: Angst und Faszination des Todes

Evidenz 7: Positive Illusionen des Menschen über sich selbst und seine Gruppenmitgliedschaft

Evidenz 8: Gruppen und Risikobereitschaft

Evidenz 9: Ingroup-Outgroup-Phänomen und soziale Identität in Gruppen

Evidenz 10: Bystander-Effekt: Warum helfen wir Menschen nicht, die leiden?

Evidenz 11: Kognitive Fehler des Menschen: Die Begrenztheit menschlicher Vernunft und Entscheidungsfähigkeit

Wie können wir bessere Menschen werden? Gibt es psychologische Hoffnung auf den Menschen 2.0?

Psychologische Strategien

Situative Strategien: Menschen brauchen mehr Kontrolle über ihre Umwelt

Frauen an die Macht

Psychologisches Wissen über Denken, Fühlen und Verhalten

Was ist Denken (Kognition)?

Ein neuronales Netzwerk

Was ist Fühlen (Emotion)?

Wie beeinflussen Gedanken und Gefühle das Verhalten von Menschen?

Menschen brauchen die Möglichkeit, kognitive Spannungen abzubauen

Ausblick

Literatur

Online

Autoren

Impressum

Einleitung

In diesem Buch gehen wir der Frage nach, ob und warum wir Menschen nach längeren Phasen positiver gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung immer wieder abgleiten in unangemessene Konfliktfreudigkeit und gefährliche Risikobereitschaft. Zur Beantwortung dieser Frage werden grundlegende psychologische Prozesse identifiziert und an aktuellen Beispielen des Weltgeschehens illustriert. Die hier recherchierten Phänomene stützen unsere Hypothese, wonach wir aus positiven sozial-psychologischen Zuständen – aus welchem Grund auch immer – wieder und wieder der Friedfertigkeit den Rücken kehren müssen, rein in die Aggression und in den Konflikt. Kann es sein, dass uns Menschen nach einer Zeit des wirtschaftlichen Wohlstands langweilig wird und wir deshalb wieder ins Risiko driften? Ein Gedanke, der nicht neu und doch heutzutage von enormer Relevanz ist. Gerade die immer wieder (vielleicht auch immer mehr) beobachtbare Lust am Leid anderer Menschen hat uns zu denken gegeben und war am Ende ausschlaggebend, dieses Buch zu schreiben. Es wird wissenschaftlich fundiert der Frage nachgegangen, ob es diesen paradoxen Effekt des Wohlstandsübermutes gibt und ob dieser immer wieder für unsägliches Leid in der menschlichen Weltgesellschaft verantwortlich sein könnte. Das Buch ist auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der modernen psychologischen Forschung geschrieben; es ist allerdings auch so geschrieben, dass alle, egal aus welcher Fachdisziplin sie kommen, es verstehen können. Wir sind der Ansicht, dass dieser Effekt einfach zu wichtig ist, als dass nicht jeder einzelne für sich ihn verstehen, reflektieren und nach Möglichkeit gegensteuern können sollte. Doch was genau ist damit gemeint? Hierfür lassen sich zahlreiche Beispiele aufführen: So etwa finden wir in Medienberichten immer häufiger Fälle, in denen Gaffer Unfälle und andere kritische Situationen beobachten und sogar filmen, ohne selbst zu helfen. Wenn man versucht, sie vom Unfallort zu entfernen, dann reagieren viele aggressiv. Beinahe so, als wäre es für sie in dieser Situation das Befriedigendste, das Leid der anderen Menschen zu beobachten. Die Digitalisierung und Allgegenwärtigkeit sozialer Medien könnte diesen psychologischen Prozess und das damit verbundene Bedürfnis der Lust am Leid der anderen zunehmend befeuern. Doch lassen Sie uns auch einmal einen Blick auf aktuelle politische Entwicklungen in Deutschland und anderen Teilen der Welt werfen und diese psychologisch analysieren.

In Deutschland leben wir – gesamtgesellschaftlich betrachtet – in einer Zeit, die bezogen auf den sozioökonomischen Wohlstand vergleichbar ist mit den Jahren des Wirtschaftswunders oder den Jahren unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordtief, der Deutsche Aktienindex ist auf Rekordhöchststand und noch nie wurden in Deutschland so viele Immobilien gekauft wie in den letzten Jahren. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade in solchen wirtschaftlich und gesellschaftlich guten Zeiten rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien einen derartigen Zulauf verzeichnen – ein Phänomen, das sich allerdings nicht nur in Deutschland wiederfindet. An sich kennen wir aus der psychologischen Forschung gegenteilige Effekte: Menschen werden autoritärer, wenn es ihnen wirtschaftlich schlecht geht oder sie sich anderweitig bedroht fühlen (vgl. zum Beispiel Fischer et al., 2007; siehe auch Tetlock, 2002). Wir kennen allerdings nicht den Effekt, dass Menschen im großen Stile autoritärer werden, wenn es ihnen wirtschaftlich besonders gut geht. Wer hätte sich jemals vorstellen können, dass in Deutschland, nach allem, was in der Zeit des Nationalsozialismus passiert ist, wieder eine rechtsextreme Partei in den Bundestag einziehen würde? Der Rechtsextremismus hat in Deutschland zur industriellen Vernichtung von Menschen geführt, zu Massenmord an Juden in einem nicht vorstellbaren Ausmaß, zum dunkelsten Punkt der gesamten Menschheitsgeschichte. Und jetzt, gerade wenn es den meisten von uns so gut geht wie seit langem nicht mehr, wählen wir wieder Politiker, die die deutsche Schuld leugnen, die Holocaust-Mahnmale verunglimpfen und das Leid und den Tod von Millionen von Menschen plötzlich nicht mehr wahrhaben wollen. Ist dies wissenschaftlich erklärbar? Kann man hier vielleicht sogar eine sozialpsychologische/allgemeinpsychologische Gesetzmäßigkeit ableiten? Wir denken: Ja.

Das vorliegende Buch geht der Frage nach, ob eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Sättigung nicht auch dazu führen kann, dass wir plötzlich wieder nach rechts abdriften. In anderen Worten: Wir behaupten, dass es Menschen in besonders guten Zeiten so „langweilig“ werden kann, dass sie dann wieder „action“ suchen. Gesellschaftliche Umwälzungen sind dabei ein willkommener Anlass, denn sie sind neu, spannend, aufregend. Man weiß nicht, was am Ende rauskommt. Es kommt einem so vor, als ob es für viele Menschen nach einer langen Phase des Friedens und Wohlstands wieder an der Zeit ist, etwas zu „zündeln“. Wer aktuell in die Welt blickt, sieht so oft einen Rechtsruck und gesellschaftliche Experimente: Trump, Brexit, die AfD. Die Wähler heben dabei Menschen ins Amt, die das negative Potenzial haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal zu ändern. Sie gehen das Risiko ein, dass dies alles nicht gut gehen wird. Dennoch: Sie gehen es überall auf der Welt ein. Ähnliche Effekte kennt man auch aus dem psychologischen Labor. Beispielsweise konnten Timothy Wilson und Kollegen (2014) in ihrer Studie eindrucksvoll zeigen, dass sich Menschen lieber einen leichten Schmerz zuführen, als gar keine Ablenkung (sensorischen Input) zu erhalten. In dieser Studie mussten Versuchspersonen 15 Minuten in einer reizarmen Umgebung, sprich ohne Bilder an den Wänden, ohne etwas zum Lesen oder dem Handy, warten. Die einzige Vorgabe bestand darin, sich durch Gedanken an ein frei gewähltes Thema selbst zu beschäftigen und wach zu bleiben. Zusätzlich hatten die Teilnehmer die Möglichkeit sich während dieser Zeit leichte Elektroschocks über eine Elektrode zu verpassen. Das erschreckende Ergebnis: Mehr als zwei Drittel der männlichen Versuchspersonen und jede vierte weibliche Teilnehmerin erteilte sich freiwillig während der Wartezeit mindestens einen leichten Elektroschock.

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