„Ja, klar, wir schaffen das“, murmelt Karl und sieht ihn genervt an.
Harry reagiert darauf nicht, sondern fährt fort: „Die BMB haben als Partei großen Zulauf, weil viele Leute denken, dass mit den Flüchtlingen die Kriminalität in der Stadt stark gestiegen ist, dass der eh schon überteuerte Wohnraum in München noch knapper wird und so weiter und so fort.“
„Naja, ein bisschen was ist da auch dran“, sagt Karl. „Warst du in letzter Zeit mal am Hauptbahnhof? Hordenweise junge Männer, viele Afrikaner.“
„Ach komm, am Bahnhof war schon immer kriminelles Gesocks.“
„Ja, red dir das mal alles schön.“
„Ruhe, Jungs!“, geht Josef dazwischen. „Was meinst du, Christine?“
„Ich weiß es nicht. Du glaubst also, dass Wiesingers Tod irgendwas mit den BMB zu tun hat?“
„Ja, irgendwie schon. Wir haben ja sonst keinerlei Hinweise. Und dann ist da seine komplett ausgeräumte Wohnung. Also, er war ja schon ausgezogen. Wir haben keine neue Meldeadresse von ihm. Ich hab starke Zweifel, ob der Tote im echten Leben wirklich Carsten Wiesinger hieß. Ich hab recherchiert. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die so heißen. Sollen wir jetzt alle überprüfen, um rauszufinden, ob da irgendwo eine Leerstelle entstanden ist? Der Aufwand ist zu groß. Das einzig Konkrete sind die Fotos von ihm bei Veranstaltungen der BMB. Dort war er offenbar Mitglied. Ansonsten hab ich nichts Näheres über ihn gefunden.“
Christine nickt nachdenklich. „Wenn Asche uns zurückpfeift, weil der Staatsschutz da seine Finger drin hat, dann ist das vielleicht ein V-Mann.“
Harry schüttelt den Kopf. „Wenn der vorsätzlich überfahren wurde, von wem denn und vor allem: warum? Die Linken machen so was nicht. Und die Rechten von den BMB? – Weil er ein Maulwurf war? Nein, so weit gehen selbst diese Leute nicht. Die geben sich doch als die netten Nazis von nebenan.“
Karl sieht ihn stirnrunzelnd an.
„Na los, Karl, sag was!“, fordert Harry ihn auf.
„Nette Nazis – dass ich nicht lache! Eine Partei, die in München bei den Kommunalwahlen antritt, ist wohl kaum eine Nazi-Partei. Wenn ich eins dick hab, dann diese blöden Gutmenschenreflexe! Da legt jemand mal den Finger in die Wunde, sagt offen, dass er besorgt ist, ob das noch alles klappt mit dem Zusammenleben mit den Flüchtlingen, mit der Integration, und sofort haben wir eine elende Debatte über Political Correctness am Laufen. Ich hab keine Ahnung, wie die Leute von den BMB wirklich sind, aber ich werd mich schlau machen. Was ich sicher weiß: Wir kommen nicht weiter, wenn wir die gleich zu den Extremen abschieben. Das ist mir zu einfach.“
„Ja, da hast du nicht Unrecht“, meint Josef. „Also, zwei Aufgaben: Rauskriegen, ob die beiden Toten bis auf den sehr nahen Wohnort noch mehr verbindet, und dann machen wir uns schlau, was diese Besorgten Münchner Bürger so treiben. Was ihre politischen Ziele sind. Welche Personen sich da engagieren. Und das alles bitte lautlos. Asche wird sich denken, dass wir da nicht einfach klein beigeben, aber er will keine Konflikte mit anderen Behörden. Ich werd mal schauen, wer mir bei den BMB was über diesen Wiesinger erzählen könnte. Die haben bestimmt einen Pressesprecher.“
„Und wenn der Staatsschutz die observiert?“, fragt Harry. „Dann sehen die doch, dass wir an der Sache dran sind. Und dann hauen sie uns auf die Finger.“
„Dann haben wir Pech. Aber ich glaub nicht, dass die ständig an denen dran sind. Sonst hätte es den Unfall mit Wiesinger doch kaum gegeben. Aber stimmt schon, jetzt sind sie natürlich angespitzt. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Also: an die Arbeit!“
Josef zieht sich in sein Büro zurück. Er grübelt. Er mag es gerne klar. Nicht, was ihre Arbeit im Detail angeht, da fischen sie oft im Trüben. Aber er weiß schon gerne, ob er sich überhaupt in seinem Zuständigkeitsbereich befindet. Falls diese politische Partei in die Todesfälle involviert ist, dann geht das über die Standardmotive hinaus, mit denen sie sich als Mordermittler sonst befassen. Die Frau, die ihren Mann aus Hass ersticht – die hat ein klares Motiv. Sogar die Beweggründe eines Stalkers, der mordet, um sich zu beweisen, um damit eine Kriminalkommissarin zu beeindrucken, die sind für ihn irgendwie nachvollziehbar. Solche Irren gibt es leider immer wieder. Aber eine rechte Partei mit einem unangenehmen Weltbild, das ist doch keine Heimstatt für Mörder? Die reden doch nur. Außerdem sind das doch so Law and Order -Typen. Zu denen passt keine heimtückische Auto-Attacke.
Wie macht man so was überhaupt? Genau den richtigen Moment abwarten und dann exakt treffen. Exakt? Schwierig. Und was ist mit dem Tod von Vinzenz Krämer, dem U-Bahnschubser? Hat der Killer in der Nacht zuvor einfach den Falschen umgefahren?
‚Ja, leck mich fett!‘, denkt Andrea, als der Chefarzt seine Visite abgeschlossen hat. Mit vier Studenten im Schlepptau hat er doziert über posttraumatische Belastungsstörungen, kognitive Dissoziation oder Stockholm-Syndrom. Stockholm! Ausgerechnet sie! Mit diesem Psychopathen, der Leute vor die U-Bahn schubst, verbindet sie rein gar nichts! Was für ein Psycho-Unfug! Diese Visite hat sie weit zurückgeworfen, nachdem sie heute Morgen eigentlich gut ausgeruht aufgewacht war. Klar, ganz ohne Spuren geht so was an einem nicht vorbei. Die Geiselnahme hat ihr Angst eingeflößt, sie hat sich in die Hose gemacht. Aber das ist ja auch nicht verwunderlich. Sie müsste sich eher Sorgen machen, wenn sie keine Angst gehabt hätte. Aber das war’s dann auch. Paul hat ihr zum Glück frische Wäsche mitgebracht. Jetzt wird sie sich umziehen, nochmal bei Tom vorbeischauen und den Laden hier verlassen.
Josef besucht den Generalsekretär der BMB. Er hat mit Dr. Josef Hinz einen Termin vereinbart in seinem Immobilienbüro in der Alpenstraße in Obergiesing. Interessiert betrachtet Josef die Angebote im Schaukasten an der Hausfassade.
„Was suchen Sie denn?“, fragt Hinz, der auf die Straße tritt und sich eine Zigarette anzündet.
„Was Bezahlbares.“
„Das wollen alle. Mieten oder kaufen?“
„Sie scherzen.“
„Wie viel wollen Sie denn ausgeben?“
Josef lächelt. „Hirmer, wir haben telefoniert.“
„Ah, der Herr von der Kriminalpolizei. Schön. Polizisten sind verlässliche Kunden. Suchen Sie wirklich nichts?“
„Nein, zum Glück nicht.“
„Ja, die Wohnungssituation ist sehr angespannt. Leider. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Nicht nur die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts München.“
„Aha?“
„Ungebremste Zuwanderung.“
„Asylanten.“
„Vor allem. Aber lassen Sie uns nicht hier draußen stehen, kommen Sie doch rein. Wir haben eine sehr gute Espressomaschine.“
Als Josef eine Stunde später das Immobilienbüro wieder verlässt, ärgert er sich. Über sich selbst. Er hat sich von dem Typen zutexten lassen, ohne viele Fragen zu stellen. Ein paar sachdienliche Informationen hat er allerdings von Hinz bekommen, allgemein zur Partei, zu Wiesinger eher wenig. Ja, Hinz kennt ihn, ein Parteimitglied der ersten Stunde. Wiesinger sei aber immer seltsam farblos geblieben. „Schrecklich, dieser Unfall“, fand Hinz. „Aber persönlich kann ich nicht viel über ihn sagen. Inzwischen haben die BMB so viele Mitglieder, dass man gar nicht mehr jedes persönlich kennt. Das ist schade, aber eben auch ein klarer Beleg für unseren Erfolg.“ Einem langen Vortrag über die grandiose Entwicklung der einstigen Protestpartei schloss sich eine Tirade auf die unsozialen Verhältnisse in der Großstadt an, in denen die Menschen, die für die Stadt arbeiten, kaum mehr leben könnten.
Josef hatte es sich verkniffen zu fragen, ob Hinz damit auch die türkischen Mitarbeiter bei der Müllabfuhr meinte. Und ob nicht gerade die Immobilienmakler am meisten von der angespannten Lage profitieren. ‚Nein, so einfach kann man solchen Typen nicht begegnen‘, denkt Josef jetzt. ‚Aber egal, wie smart – dieser Hinz ist ein gelackter Anzug-Nazi. Warum hab ich jetzt eigentlich die Unterlagen für diesen neuen Baukomplex in Obergiesing in der Manteltasche?‘
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