Eine weitere Todesnachricht betrifft Burkhardt Lindner, den Literatur- und Medienwissenschaftler sowie Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, der neben vielem anderen ein exzellenter Kenner der Werke von Benjamin und Peter Weiss war. Er starb im Januar 2015. Im Heft 5 (1997) der ZkT erschien sein grundlegender Aufsatz: »Derrida. Benjamin. Holocaust. Zur politischen Problematik der ›Kritik der Gewalt‹«.
Der vorliegende Band enthält die folgenden Beiträge: Die Abhandlungen setzen mit einem Text von Hans-Ernst Schiller ein, der die Grundzüge des bürgerlichen Bildungsbegriffs sowie dessen dialektische Kritik durch Adorno vergegenwärtigt. Mit Blick auf den Bildungs- und Erziehungsbegriff Martha Nussbaums erkennt er – etwa in der Bedeutung der Empathie mit den Leidenden – Parallelen zu Adorno. Schiller formuliert aber auch die Unterschiede zwischen beiden Konzepten: Nussbaums Position greife vor allem deshalb zu kurz, weil ihr ein Begriff sowohl der sozialen Herrschaft als auch der politischen Ökonomie fehle. – Thomas Jung zeigt, dass für Adornos erkenntnistheoretisches Vorgehen die sprachliche Verfasstheit der Begriffe konstitutiv ist. Das vergegenwärtigt er am Begriff der Konstellation, den er im Lichte einer sprach- und begriffskritischen Argumentation reinterpretiert. Adornos These, man müsse mit dem Begriff über den Begriff hinausgehen, liest Jung so, dass dort, wo sich die Begriffe dem Nichtidentischen zuwenden, in die philosophische Darstellung ein Ausdrucksmoment eintrete und die Philosophie sich inmitten ihres begrifflichen Vorgehens auch künstlerischer Momente wie der Metaphorizität bediene. – Karlheinz Gradl rekonstruiert Adornos dialektischen Naturbegriff vom Abitursaufsatz bis zur Ästhetischen Theorie. Adorno greife zunächst auf Ideen von Simmel und Lukács zurück, überschreite diese aber sukzessive. Mit Blick auf die Wandlungen des transzendenten Gehalts, der in der Betrachtung des Naturphänomens der Landschaft aufscheine, zeigt Gradl, dass noch in der letzten Gestalt von Adornos Naturphilosophie – im Kontext seines Denkens der vollendeten Negativität – mit dem Gedanken des dialektischen Umschlags eine Erlösungsperspektive mitgesetzt sei. – Sebastian Bandelin liefert eine detaillierte und textgenaue Relektüre von Hegels Anerkennungstheorie in dessen Jenaer Realphilosophie, um die Unterschiede zwischen Hegel einerseits und andererseits Axel Honneths sowie Seyla Benhabibs Fortschreibungen dieser Theorie kritisch zu akzentuieren. – Hendrik Wallat legt eine Platonlesart vor, die zwei zentrale Probleme der Dialektik der Aufklärung aufnimmt: die Herrschaft über die Natur – hier: über die Tiere – und die Frage nach dem Eingedenken der Natur im Subjekt. Zunächst rekonstruiert Wallat das Verhältnis von Mensch und Tier bei Platon, indem er dessen Metaphorik – Herde, Hirt und Wächter – ebenso thematisiert wie die Herrschaftslegitimierung im Zeichen der Unterdrückung der Natur durch Domestikation. Sodann knüpft er mit der These, Domestikation sei missglückte Versöhnung, dialektisch an Platon an. Dies verlange nach der Aufhebung der politischen Zoologie sowie nach einem unverstellten Begriff der Versöhnung, in der Tiere und Natur nicht mehr unterdrückt werden dürften. – Axel Pichler greift die Frage nach der Gattungszuordnung von Benjamins Über den Begriff der Geschichte auf, um in einer detaillierten philologischen Betrachtung die Schnittstelle von Benjamins textuellem Vorgehen zwischen philosophischer Thesenbildung und künstlerischem Verfahren zu lokalisieren. Er zeigt, dass Benjamin die Thesen noch auf der Wort- und Bildebene in harter Fügung gearbeitet hat. Sein Fazit lautet daher, dass einzelne Passagen nicht isoliert werden dürften, sondern dass Über den Begriff der Geschichte immer als Ganzes erfasst und bedacht werden müsse. – Andreas Greiert widerspricht Teilen der Geschichtswissenschaft und der Benjaminforschung, die behaupten, dass Benjamin den Historismus nicht nur kritisiere, sondern auch an ihm partizipiere. Der Autor geht zunächst auf die Entwicklung des Historismusbegriffs von Ranke bis Meinecke zurück und legt dann Benjamins Geschichtsbegriff in Abgrenzung zu den referierten Positionen dar. Er resümiert, dass Benjamin seine Kritik am Historismus ebenso radikal wie konsequent durchgeführt habe. – Marc Nicolas Sommer setzt die Serie grundlegender Positionsbestimmungen kritischer Theorie fort, die in vorangegangenen Heften von Hans-Ernst Schiller (Heft 34/35) sowie Christoph Türcke und Axel Honneth (Heft 32/33) vorgenommen wurden. Sommer perspektiviert die Frage: Was ist kritische Theorie?, indem er den systematischen, wesenhaften Kern des Kritischen darin zu bestimmen sucht. Dazu weist er zunächst verschiedene Zugänge – wie den verbreiteten deskriptiven – ab, um eine kriterielle Bestimmung vorzuschlagen. Mit Adorno, Heidegger, Merleau-Ponty und Deleuze entfaltet er die These, dass nur jene Theorie als kritisch gelten könne, die die Kritik ihres eigenen Vollzugs umfasse und dabei insbesondere ein reflektiertes Verhältnis zum Irrtum finde.
Die Einlassungen beginnt Gunzelin Schmid Noerr mit einer Stellungnahme zur Freischaltung des Nachlasses von Max Horkheimer auf dem Online-Portal der Universitätsbibliothek Frankfurt. Darüber hinaus thematisiert er an diesem Beispiel grundsätzlich die Funktionen von Gelehrtenarchiven. Dabei hebt er die Archive insbesondere hinsichtlich ihres potenziellen Beitrags für die Arbeit am kulturellen Gedächtnis hervor. – Es folgen die bereits angekündigten Beiträge von Hermann Schweppenhäuser und Christoph Türcke.
In den Besprechungen stellt Hanno Plass Neuerscheinungen zum Thema Kapitalismus und Demokratie von Colin Crouch, Tony Judt, Frank Deppe sowie eine Sonderpublikation der Blätter für deutsche und internationale Politik – mit Beiträgen von Wolfgang Streeck, Elmar Altvater, Claus Offe, Jürgen Habermas und Stephan Schulmeister – vor und ordnet sie kritisch ein.
Mit der Nummer 40 aktualisieren wir außerdem das Gesamtinhaltsverzeichnis der Zeitschrift für kritische Theorie. – Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die neu gestaltete Internetseite der ZkT.2
Hans-Ernst Schiller
Politische Pädagogik und die Utopie der Bildung
Adorno und Martha Nussbaum im Vergleich1
Als Thomas Morus in der zweiten Dekade des 16. Jahrhunderts seine Utopia verfasste, war Bildung ein wesentliches Element seiner Schilderung. Die Gesellschaft, die der fiktive Erzähler Raphael Hydlotheus auf der weit entfernten Insel Utopia kennengelernt hat, zeichnet sich aus durch die Abwesenheit von Geld, Privateigentum und Klassenschranken. Weil jeder arbeiten muss und keiner auf Kosten der anderen müßig sein kann, ist es möglich, die Arbeitszeit auf sechs Stunden am Tag zu reduzieren. Was machen die Leute mit ihrer Freizeit? Sie bilden sich. Am Morgen gibt es verschiedene öffentliche Vorlesungen, zu denen Männer und Frauen strömen, je nach Interesse und Anlagen. Der Besuch ist freiwillig für alle, außer für die in wissenschaftlichen Berufen Tätigen. Abends, nachdem die Arbeit getan ist, widmen sich die Utopier gemeinsamen Beschäftigungen wie Sport und Spiel, Musik und Gesprächen. Auch in Utopia gibt es eine Arbeitsteilung und verschiedene Berufe, welche freilich durch keine festen Schranken getrennt sind. Nicht nur bleibt genügend Zeit und Gelegenheit, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen, sondern es ist auch möglich, von einer handwerklichen zu einer gelehrten Tätigkeit zu wechseln.
In seinem Hauptwerk Das Kapital hat Marx das erste, zeitkritische Buch der Utopia (im Zusammenhang mit der sogenannten ›ursprünglichen Akkumulation‹) rühmend erwähnt. In unserer Perspektive wichtiger aber ist die Tatsache, dass Marx auch in den spärlichen Splittern seiner Utopie auf der Linie des alten Humanisten liegt. Viele Einzelheiten Utopias wie die Arbeitsteilung der Geschlechter oder die Religion interessierten Marx nicht, und er hat sie sicher auch abgelehnt. Dass aber der Zweck einer klassenlosen Gesellschaft, wie bei Morus, darin liegt, den Menschen Bildung und individuelle Entfaltung zu ermöglichen, gehört ins Zentrum seiner Gedanken. Auf einer Basis notwendig zu verrichtender Arbeit, die sich »mit dem geringsten Kraftaufwand« und unter den der »menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn« wird, soll sich ein »Reich der Freiheit«2 erheben, in dem die Entwicklung der menschlichen Kräfte Selbstzweck ist. Beide Aspekte wurden zunächst mit dem Ausdruck einer »Aneignung der Produktivkräfte durch die vereinigten Individuen«3 bezeichnet. Die Entwicklung der menschlichen Kräfte erhält unter den Bedingungen des Privateigentums die Form der Kapitalakkumulation, welche dem als Warenbesitzer vereinzelten Einzelnen jene Kräfte als etwas Fremdes, ihn Beherrschendes gegenüberstellt. In Wahrheit sei der menschliche Reichtum jedoch nichts als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse und Fähigkeiten. Der Ton wird geradezu hymnisch: der wirkliche Reichtum sei das »absolute Herausarbeiten« der schöpferischen Anlagen«, »die völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern«4. Auch Marx stellt sich die Utopie nicht als Schlaraffenland vor; reale Freiheit sei vielmehr travail attractif, »Selbstverwirklichung des Individuums«, nicht amusement, sondern »intensivste Anstrengung«5.
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