In jenen Tagen war es draußen im Westen üblich, dass ein Witwer mit kleinen Kindern recht bald wieder heiratete. Andrew folgte dieser Neigung. Ein Jahr nach Marys Tod traf er eine andere Mary, eine Lehrerin, die, weil einer ihrer Schüler an Scharlach erkrankt war, nach seinen Diensten verlangt hatte. Der Schüler erholte sich und Andrew verliebte sich in die Lehrerin. Am 20. November 1860 heiratete er Mary Elvira Turner, die Tochter eines New Yorker Arztes. Sie war Absolventin einer Mädchenakademie, des späteren Vassar College.9 Sie wurde zu seiner treuen Begleiterin, stand ihm durch all die ihnen bevorstehenden Zeiten zur Seite, als sie mit Entbehrungen, Spott und sogar Ächtung konfrontiert waren. Ohne ihre Kraft und Ermutigung hätte er wohl seinen Traum, einen besseren Weg in der Behandlung von Krankheiten zu finden, nicht verfolgen können.10
Von einem Frontierarzt wurde erwartet, jede Entfernung zurückzulegen, bei Tag und Nacht, und alles zu tun, angefangen damit, Kinder zur Welt zu bringen, Schusswunden zu behandeln bis hin zur Amputation von Beinen. Dr. Still machte alles und ließ sich sogar darauf ein, einzelne Zähne zu ziehen. Einmal schnitzte er einen hölzernen Stopfen aus einem Stück Hickory, den er in den schmerzenden Zahn einer Dame einpasste. Sie sagte, er habe nie wieder wehgetan.11 Ein andermal wurde ein junges Mädchen von einem Hund ins Gesicht gebissen, zwei Zoll tiefe Schnitte blieben zurück. Er behandelte sie zehn Tage lang mit verdünnter Schwefelsäure. Obwohl einige von dem Hund gebissene Tiere tollwütig wurden, bekam sie keine Rabies. Ein anderer Patient war ein Baby, das in seinem Bettzeug auf dem schmutzigen Boden des Holzhauses der Familie schlief. Eine Klapperschlange kroch durch einen Spalt und auf die Decke des Babys, wo sie sich zusammenrollte und einschlief. Als die Mutter aufwachte und die Schlange sah, bekam sie Panik und griff nach dem Baby, wodurch sie die Schlange aufschreckte; diese biss das Kind. Der Vater tötete die Schlange und eilte zu Dr. Still, der den Biss mit Ammoniak behandelte. Das Baby überlebte.
ABB. 6: FRAU MARY ELVIRA STILL (GEB. TURNER)
Als er an einem Tag in der Umgebung ausritt, stieß Andrew auf eine Gruppe mexikanischer Viehtreiber auf dem Santa-Fe-Trail. Die Wagen waren stehengeblieben und alle hatten sich um einen auf dem Boden liegenden Mann versammelt. Andrew hielt an, um zu sehen, was los sei, und sie sagten ihm, dass der Mann von seinem Pferd abgeworfen worden sei. Sie dachten, sein Genick wäre gebrochen, und als sie herausfanden, dass er ein Arzt war, baten sie ihn um Hilfe. Still erklärte, dass er, wenn er versuchen würde, es einzurenken, den Mann vielleicht töten würde. Doch sie sagten, er solle fortfahren, da dem Mann ohnehin so gut wie tot sei. Andrew trieb auf beiden Seiten des Genicks zwei Stahlstifte in den Boden, um es zu stabilisieren. Dann bewegte er langsam und vorsichtig den Kopf. Plötzlich erschlaffte der Mann und Andrew dachte, dass er ihn nun sicher getötet habe. Doch der Patient öffnete die Augen und war wieder wohlauf. Dr. Still sagte später, dass dies sein erster Versuch mit Manipulationen gewesen sei.
Obwohl Andrew sich selbst als einen guten Arzt betrachtete, wurde er entmutigt durch jene, denen er nicht helfen konnte. Er fing an, die existierenden Methoden der Medizin infrage zu stellen, wozu insbesondere das Aderlassen, das Abführen und der ausgiebige Gebrauch von Arzneimitteln gehörten, von denen viele giftig waren oder abhängig machten. Er fand, dass die Wirkungen der Arzneimittel oftmals schlimmer waren als die der Krankheit. Zudem wurden Operationen unter unhygienischen Verhältnissen durchgeführt. Er schrieb über seinen Wunsch, mehr über den Körper zu lernen, in seinen autobiografischen Aufzeichnungen:
„In den anfänglichen Tagen im windgepeitschten Kansas begann mein Durst nach mehr Wissen. Ich musste auf jede Art chirurgischer Operation vorbereitet sein (Gliedmaßen amputieren etc.). […] Deshalb musste ich über Zahl, Form, Lage und Verbindung aller Knochen im Körper Bescheid wissen. Daher besuchte ich in Begleitung von Pascal Fish (Häuptling der Shawnee-Indianer) Friedhöfe, auf denen ich bestens erhaltene Skelette fand.“12
Er trug die Knochen in Jutesäcken nach Hause und setzte sie mit Drahtstücken wieder zusammen, um Skelette zu bilden. Er lernte, jeden Knochen mit verbundenen Augen zu erkennen. Er las alle seine medizinischen Bücher erneut, worin er jedoch keine Antworten fand, sodass er sich am Kansas City College of Physicians and Surgeons anmeldete. Rasch war er unzufrieden mit der Qualität der Ausbildung. Er fand, dass er bereits so viel wusste wie seine Lehrer. In einem Brief, der im Ladies Home Journal veröffentlicht wurde, schrieb er: „Ich bestand alle Prüfungen, doch aufgrund des vielen Whiskeys, der verwendet wurde, sowie Opium, Morphium und anderen Arzneimitteln, war ich gründlich angewidert, sodass ich jedes Verlangen, den Abschluss zu machen, verlor und nie zurückkehrte, um mein Diplom entgegenzunehmen.“13
Andrews wissbegieriger Verstand14 brachte ihn auch dazu, Sachen zu erfinden. Oft half er dabei, Butter zu rühren, und scherzte, dass sein Geist zwar willig sei, sein schmerzender Arm aber nicht. Er entwickelte eine Antriebswelle, die an einer Stange mit Armen befestigt war, die den Rahm mit größerer Geschwindigkeit an die Wand des Butterfasses schleuderten als in dem alten Butterfass mit einer Stange, die hoch- und runtergeschoben wurde. Das reduzierte die Zeit für die Butterherstellung von einer Stunde auf etwa zehn Minuten. Sein Butterfass gewann einen Preis bei einem Jahrmarkt. Er versuchte, örtliche Geschäftsleute dafür zu gewinnen, es zu produzieren, aber ohne Erfolg. Dennoch wurde ein Butterfass, das das gleiche Prinzip benutzte, bald auf den Markt gebracht.
Er erfand auch eine Verbesserung für eine Mähmaschine, indem er ein Gestell baute, das das herabfallende Getreide mithilfe langer stählerner Arme auffing, nachdem es geschnitten worden war. Wenn 50 Pfund zusammen waren, ruckte ein Hebel und warf das Getreide in einem zum Verbinden fertigen Bündel auf den Boden. Andrew nahm Kontakt mit der Wood Mowing Company auf, um seine Idee zu patentieren und weiterzuentwickeln, und Vertreter des Unternehmens besuchten ihn. Obgleich sie Interesse zu haben schienen, hörte er nie wieder von ihnen. Doch zur nächsten Erntezeit hatten alle Mähmaschinen der Wood Company lange Finger, um das Getreide aufzufangen. Still erfand außerdem eine Feder-Wäscheklammer und ein Umschaltgerät, das von den Eisenbahnen verwendet wurde. Nie profitierte er materiell von irgendeiner seiner Erfindungen, obwohl er es gerne hätte. Sein einziger Lohn lag in der Befriedigung, ein Problem durchgearbeitet zu haben.15
In einem Jahr fiel eine furchtbare Heuschreckenplage über die Ebenen von Kansas herein und verschlang alles, was in Sicht war. Alle Nutzpflanzen und Gärten waren vernichtet. Die Heuschrecken waren so dick, dass die Leute kaum mehr aus dem Haus gehen konnten. Sie verstopften die Fenstersimse mit Lumpen, damit die Tiere nicht in die Häuser kamen. Aufgrund der dramatischen Nahrungsknappheit machte Andrew eine Reise nach Missouri und kam mit einigen Wagenladungen mit Vorräten für seine Familie sowie für die Leute aus Baldwin zurück.16
Während des Bürgerkriegs diente Andrew in der Unionsarmee. Im September 1861 verpflichtete er sich in der Neunten Kansas-Kavallerie unter dem Kommando von James H. Lane. Nachdem General Price, der die Westarmee der Konföderierten kommandierte, bei Lexington, Missouri einen Sieg errungen hatte, marschierte seine Armee südwärts nach Arkansas. Lanes Armee, Andrews Regiment eingeschlossen, folgte ihnen weit nach Süden bis nach Springfield. Im November wurde Lane nach Fort Scott zurückbefohlen bzw. weiter nach Harrisonville ins Winterquartier, wo Dr. Still als Hilfskraft im Krankenhaus der Unionsarmee diente.17 Er verabscheute die zahlreichen Toten im Feldlager infolge von Krankheiten und Dysenterie, und er hasste die vielen Amputationen. Er schrieb von einem Fall, in dem er das Bein eines Mannes gerettet hatte. Der Mann war angeschossen worden und die Chirurgen wollten sein Bein sofort amputieren. Doch Andrew stellte fest, dass die Arteria femoralis nicht verletzt worden war, und er überredete sie, ihn das Bein zu retten versuchen zu lassen. Er baute eine Holzwanne und richtete mit Federn, einem Seil und einem Fass Wasser ein Drainagesystem ein. Binnen weniger Wochen lief der Mann wieder auf Krücken.
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