„Okay. Gleiche Zeit?“
„Ja, das sollte gehen. Dann pass auf dich auf und grüß mir die Elche, ja? Ich liebe dich, Sweetie!“
Sagt der das doch tatsächlich über den öffentlichen Funk! Na, wieso eigentlich auch nicht?
„Bis morgen dann. Ich lieb dich auch. Raven Hill clear.“
„Como Lake out.“
Ich stellte das Funkgerät ab und stieg glücklich und beschwingt durch das Gespräch die Stiege hinunter. Da zog er hin, mein Freund, sich unter die Menschen zu mischen und seine sozialen Kontakte zu pflegen. Sollte er doch! Nein, hinaus in die Menschenwelt zog mich inzwischen kaum noch etwas. Fremd, irgendwie unverständlich waren mir die Menschen geworden, deren Leben ungleich facettenreicher als das meine war; die täglich Dutzende, sogar Hunderte anderer Menschen sahen, sich mit ihnen arrangieren mussten; die Arbeitskollegen, Kinder und Chefs hatten, Freunde, die sie mal eben so sehen konnten. Über was konnte ich mit ihnen noch groß reden? Im Laufe der sechs Jahre, die seit dem Bau der Cabin vergangen waren, hatten sich Elche, Schnee, Bären, Bäume und Eis zu meinen Themen entwickelt.
„Wollt ihr mit rauskommen?“
Eine rhetorische Frage. Die vier Hunde waren sofort auf den Beinen und schwänzelten aufgeregt um mich herum. Ich legte Silas und Moldy ihre Teletakthalsbänder an, die uns unter den Elchen, Stachelschweinen, Wölfen und Bären viele Sorgen und potenzielle Tierarztkosten ersparten: Falls der Jagdinstinkt ihr Hirn einmal ausschaltete, kamen unsere auf den fein regulierbaren Elektroimpuls trainierten Hunde sofort.
Moldy
Mir dagegen schnallte ich das Bärenspray um, dazu kamen noch der übliche Tagesrucksack mit dem Notpeilsender und den Erste-Hilfe-Sachen, sodass ich für alles von problematischen Tierbegegnungen bis zu Unfällen abseits der Blockhütte gut gerüstet war. Fliegender Händler, die Wildnisversion – so kam ich mir mit den ganzen Sachen vor. Ich sah auf die von den Schneeflocken verschleierten Zitterpappeln und den wintergrauen See hinaus. Schneller und dichter fiel der Schnee, verwischte das Tageslicht zu einer verfrühten Dämmerung, zog meine Welt noch enger zusammen, als sie sowieso schon war. Bevor ich die Hunde hinausließ, ging ich allein den Pfad hoch und schaute nach den Elchen – aber sie waren nirgendwo mehr zu sehen. Ihre Spuren führten von unserem Grundstück fort.
„Silas, bei Fuß! Moldy!“ Enttäuscht lotste ich die nach der Elchfamilie schnuppernden Hunde in den Pappelwald hinein. Für das nächste Vierteljahr würde ich nicht mehr viele Lebewesen zu Gesicht bekommen, die größer als ein Hund waren. Tierbegegnungen waren mir unsagbar wertvoll geworden.
Ich bohrte meine Hände tiefer in die Jackentaschen. Nach dem Funkgespräch mit Chris, dem Hundegebell und der Aufregung mit den Elchen kam mir der Wald so still vor, als hielte er den Atem an. Eine leichte Brise trug den intensiven Nadelbaumgeruch einer Tannengruppe zu mir herüber. Nichts schien sich in dieser Einsamkeit zu bewegen, außer mir und den Hunden. Plötzlich schweiften alle vier vom Pfad ins Gebüsch ab, ließen kleine Wolken Neuschnee von den Weidensträuchern stieben.
Erregt bebten die Hundenasen über eine frische Spur im Schnee. Am Rande unseres Pfades fand ich einen unversehrten Abdruck, der allerdings von keinem Elch herrührte. Eine ovale Mulde in Handgröße war in den Schnee gepresst: Ein Bär! Ähnlich wie ein breit ausgetretener, menschlicher Fuß sah die Fährte aus, mit einem kleinen Gestirn von fünf Krallen gekrönt. Sogar die Falten der Fußsohle waren zart im Schnee abgezeichnet. Ich legte meine Hand in den Abdruck der nicht viel größeren Pranke. In weiten Schlenkern verlor sich die Spur im Wald. Nur das Hecheln der Hunde zerschnitt die Stille.
Bärenspur im Schnee
„Ein Schwarzbär“, sagte ich leise und fühlte mich beschenkt – es war doch nicht so einsam. Erst die Elche, und nun war ein Bär in der Nachbarschaft. „Na, dann lasst uns mal sehen, wo er hingelaufen ist. Bei Fuß. Fuß!“
Ich wischte meine schneefeuchte Hand an der Fleecehose ab und begann mit den Hunden der Bärenfährte zu folgen. Die knorrigen Äste der Fichten ließen immer wieder einen Teil ihrer kalten Ladung in meinen Jackenkragen fallen, als ich mich unter ihnen hindurchwand. Über umgestürzte Bäume war auch der Bär geklettert: Die Schleifspur seines Hinterteils zog sich zwischen den Tatzenabdrücken über ein paar besonders dicke, quer liegende Stämme. In dem zunehmend moorigen Gelände lehnten die verkümmerten Fichten trunken aneinander, die schwärzlichen Pfützen darunter waren mit hauchdünnem Eis versiegelt. Fahlgelbes Sumpfgras ragte elegant aus dem Schnee und strich gegen meine Beine.
Anders als die festgeklopften Pfade der Schneehasen folgte die Bärenspur keiner bestimmten Richtung. Vereinzelte Hagebutten leuchteten im Unterholz, unter ihnen feine Tupfen von Hermelinspuren, als hätte ein Kind alle fünfzehn Zentimeter zwei Finger in den Schnee gepresst. Das Gezwitscher eines kleinen Schwarms Meisen durchbrach die Stille des Waldes.
Mein Menschsein schien mir fehl am Platz zu sein, hatten doch alle andern Lebewesen um mich herum vier Beine oder Flügel. Bloß einen Einblick in das Leben des Bären wollte ich bekommen, erahnen, mit welchen Gedanken er sich durch den Wald bewegt hatte. Vielleicht folgte ich ihm auch einfach aus meinem Bedürfnis nach Kontakt und dem Wunsch zu wissen, was in meiner Nachbarschaft vor sich ging.
Die Gedanken des Bären – so weit war es mit mir schon gekommen. Für den Fall, dass der Bär noch in der Nähe war, rief ich ab und zu laut nach den Hunden, obwohl sie sich recht dicht bei mir hielten. Die Spuren interessierten mich, aber überraschen wollte ich das Tier nicht; auch wenn ein Bär normalerweise vor so vielen Hunden Reißaus nehmen würde.
Im offenen Pappelwald wanden sich die Spuren zwischen den Bäumen hin und her. Ich pflückte von den dürren Zweigen der Highbush-Cranberry-Sträucher ein paar hellrote, glasige Beeren, die mir sauer und leicht bitter auf der Zunge zergingen. Fast unkenntlich gemacht von den Hundepfoten führte die Bärenspur vor mir weg und hielt auf einmal inne. Tief waren die Tatzenabdrücke in die fünf Zentimeter Schnee gedrückt, hatten die Gräser darunter hervorgeschmolzen, an denen sich jetzt die neuen Schneeflocken verfingen.
Unser Blockhaus in der Dämmerung
Dort hatte er gestanden, der Bär, in den weiß-braunen Winterwald gestarrt und die Neuigkeiten gerochen, die der Wind ihm zutrug. Vielleicht den Rauch aus unserer Ofenröhre, das Nass des großen Gletschersees, die herben Beeren und alte Fährten von Chris, den Hunden und mir. Mit zögernden Schritten, so erzählte die gedrängte Zahl seiner Spuren, hatte der Bär sich wieder umgewandt und war zurückgegangen. Vielleicht dachte er schon an seine Höhle, in der er sich bald zusammenrollen und die kalt und dunkel gewordene Welt bis zum Frühling vergessen würde.
Dir geht es im Moment nicht viel anders als mir, Bär. Fühlst dich auch etwas seltsam in dieser Zeit der Umstellung, der Einkehr, wo es in der Wildnis so still wird. Zögernd kehrte ich um und kürzte zu einem unserer Trampelpfade in Richtung Blockhaus ab. Langsam brach die Dämmerung herein.
Es ist erst in der totalen Einsamkeit, wenn kein anderer Mensch mehr da ist, dass sich alle Sinne dem Land weit öffnen. Lebt man doch als Mensch im täglichen Dialog mit anderen, an denen man sich erkennt und definiert. Fällt das weg, dann greifen die Augen, Ohren, Nase und Hände in ihrem Bedürfnis nach Kontakt und Austausch nach den Bergen, der sterilen Winterluft, dem Ruf eines Raben. Die Handfläche liegt weich im Schnee, der noch vor Stunden die Pranke eines Bären hielt. Die Grenzen zwischen dem, was mich ausmacht, und dem wilden Land um mich herum fangen an, zu verwischen.
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