«Wir müssen nachher unbedingt noch über unsere Hochzeit reden.»
Kappe überlegte lange, wie er dem entgehen konnte. Eine Gelegenheit dazu bot sich erst kurz vor dem Halbzeitpfiff. Da stieg er zu einem Kopfball hoch und stieß dabei so unglücklich mit einem Gegenspieler zusammen, dass seine Augenbraue aufplatzte. Das war nicht schlimm, er blutete aber, so sollte es der Schiedsrichter später im Spielbericht vermerken, wie ein angestochenes Schwein und musste ins Krankenhaus, um genäht zu werden.
Als das erledigt war, sah er den Arzt so treuherzig an, wie er eben konnte. «Ob Sie meiner Braut nicht sagen können, ich hätte eine Gehirnerschütterung und müsste noch zur Beobachtung hierbleiben? Sie möge aber bitte schon nach Hause gehen.»
«Muss Liebe schön sein», murmelte der Doktor und tat ihm den Gefallen.
Am nächsten Nachmittag war alles vergessen, nur ein dickes Pflaster klebte noch auf seiner rechten Augenbraue. Kappe hatte sich mit Theodor Trampe in der Waldemarstraße vor der Haustür getroffen, um mit ihm zur großen Maikundgebung auf dem Potsdamer Platz zu fahren. Galgenberg stieß am Kottbusser Tor zu ihnen.
«Wohl dem, der eine Gehirnerschütterung hat», sagte Galgenberg, als er von Kappes Malheur erfuhr. «Weeß man wenichstens, det da wat is, wat erschüttert werden kann. Bei manch eenem Zeitjenossen wär ick mir da nich so sicher.»
Während Trampe rein privat zum Potsdamer Platz fuhr, um Karl Liebknecht zu lauschen, waren Kappe und Galgenberg dienstlich unterwegs, wobei Kappe gern das Private mit dem Nützlichen verband, Galgenberg hingegen linke Sozis wie Karl Liebknecht nicht ausstehen konnte.
«Klar, die Welt muss vabessert werden, aba nich von Knallköppen, wie der eena is.»
«Na, hören Sie mal!», rief Trampe.
«Nee, kann ick nicht», entgegnete Galgenberg. «Ick bin ja schließlich nich mein Nachbar.»
«Was hat denn das mit Ihrem Nachbarn zu tun?», wollte Trampe wissen.
«Na, der heißt Völker und hört immer die Signale - die, von denen Sie imma singen.»
Theodor Trampe unterließ es, den Agitator zu spielen. Einem Mann wie Galgenberg konnte man nicht böse sein. Ohne Gemütsathleten wie ihn wäre das Leben kaum zu ertragen gewesen.
Obwohl Kappe eng mit Trampe befreundet war, hatte er ihm nicht verraten, was sein eigentlicher Grund war, zum Potsdamer Platz zu fahren, denn dass er darauf aus war, Ernst Bergmann zu verhaften, hätte Trampe gar nicht gefallen. Kappe konnte sich nicht entscheiden, was er hoffen sollte: dass sie Bergmann trafen oder dass sie Bergmann nicht trafen.
Wie er aussah, wussten er und Galgenberg ziemlich genau, denn bei der Politischen Polizei gab es ein paar Photos von ihm. Und da hatte die Röddelin gar nicht mal so unrecht, denn Bergmann sah wirklich aus wie ein Neandertaler. Aber dass ihnen dieser Neandertaler bei einer Massenkundgebung in die Arme lief, war praktisch ausgeschlossen, es sei denn, man vertraute Galgenbergs Welterkenntnis Nummer eins, die da lautete: «Haste Glück, machste dick.»
«Janz schön wat los hier», sagte Galgenberg, als sie am Potsdamer Platz aus der U-Bahn stiegen. «Wenn die mir alle ’ne Mark schenken würden, hätte ick für den Rest meines Lebens ausjesorgt.» Alles drängte in Richtung Rednertribüne. Man lief Ellenbogen an Ellenbogen, und teilweise war die Drängelei so groß wie auf dem Bahnsteig Alexanderplatz beim Entern eines gerade eingefahrenen Stadtbahnzuges. Unter den Arbeitern bemerkte Kappe auffällig viele Frauen und Jugendliche. Die ersten Scharmützel mit der Polizei ließen nicht lange auf sich warten. Einige Arbeiter hatten unten an ihren Spazierstöcken Nadeln angebracht, und pikte man mit denen in die breiten Hinterteile der Polizeipferde, bäumten die sich auf, gingen durch und verhinderten so eine befohlene Attacke.
Als es einer ausprobierte, ließ der Effekt nicht lange auf sich warten: Die Blauen und ihre Offiziere wurden nervös und fingen an, die Masse mit Fäusten hin und her zu stoßen.
Kappe hatte Mühe, nicht in Panik zu verfallen. Hier zerquetscht zu werden war auch kein schöner Tod. Wäre er doch bloß Wachtmeister in Wendisch Rietz und Storkow geblieben! Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, ausgerechnet hier nach dem Handgranatenmörder zu suchen?
Sie waren zu weit von der Rednertribüne entfernt, um sein Gesicht deutlich erkennen zu können, sie hörten aber deutlich die sonore Stimme Karl Liebknechts: «Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!»
«Bravo!», rief Trampe.
«Pfui!», schrie Galgenberg.
Kappe lag mit seiner Meinung irgendwo dazwischen und wusste nicht so recht, wie er seine Gefühle in Worte fassen sollte. Außerdem … Er rammte Galgenberg den Ellenbogen in die Seite.
«Mensch, da ist der Bergmann!»
Richtig, der Mann, der da etwa zehn Meter von ihnen entfernt an einem Laternenpfahl lehnte, musste es sein. Stichwort: Neandertaler.
Nun ging alles ganz schnell. In dem Moment, als sie sich durch die Menge drängeln wollten, um Ernst Bergmann zu verhaften, wurde Karl Liebknecht, der kurz zuvor festgenommen worden war, inmitten eines Knäuels von Polizisten zur Wache abgeführt.
«Hoch, Liebknecht!», rief Theodor Trampe.
Sofort waren zwei Polizisten zur Stelle, um auch ihn zu arretieren.
Kappe zögerte keinen Augenblick, den Freund herauszuhauen, und zückte seine Marke.
«Das ist meiner, den habe ich schon festgenommen, der hat mir eins aufs Auge gegeben.»
Da unter dem Pflaster auf der Augenbraue noch alles blau war, zog dieses Argument, und man ließ Trampe los.
Als sich Kappe wieder auf Bergmann konzentrieren wollte, war der verschwunden. Nein, Galgenberg war ihm noch dicht auf den Fersen …
Doch auch Galgenberg hatte keinen Erfolg, denn die Berittenen hatten inzwischen blankgezogen, und ein Hieb mit der flachen Seite eines Säbels warf ihn nieder.
DIE BACKSTEINERNEN GEBÄUDE der Firma «Klaucke & Kutzner, Telegraphenkabel & Zubehör» standen weit draußen im Norden der Stadt, auf einem öden Grundstück an der Flottenstraße. Immerhin in der Nähe des Bahnhofs Reinickendorf an der Vorortstrecke nach Velten, so dass Karl Nassmacher morgens vom Ringbahnhof Stralau-Rummelsburg kaum mehr als fünfzig Minuten bis hier hinaus benötigte. An die Eisenbahnfahrt 3. Klasse war er seit Jahren gewöhnt, und er wäre nie auf die Idee gekommen, sich etwa am nahen Wedding eine Behausung zu suchen. Als jung zugewanderter Werneuchener fühlte er sich ganz als eingeborener Berliner. Und ein Berliner blieb seinem Kiez treu, selbst wenn sein Quartier, genau betrachtet, knapp außerhalb der eigentlichen Stadtgrenze lag, in Boxhagen-Rummelsburg, das zur jungen Stadt Lichtenberg gehörte.
In der Gryphiusstraße bewohnte er ein möbliertes Zimmer bei der Gardeoffizierswitwe Knippenhain, die einerseits über ihn und den betagten Lehrer Mehlhase, den Mieter des zweiten Zimmers nach vorn raus, ihr strenges Regiment führte, ihn andererseits jedoch auch ein wenig bemutterte, als Ersatz für den als Leutnant im Felde stehenden Sohn. Seine Gedanken über den Sohn und den Krieg behielt Karl Nassmacher tunlichst für sich. Und dass er den Vorwärts las, schien die Witwe nicht zu erschüttern. Ihr Interesse an Geschriebenem beschränkte sich auf die unregelmäßig eintreffenden Briefe des Herrn Leutnant aus Belgien - eine Zeitung zu lesen hielt sie für unter ihrer Würde. Nur Mehlhase ließ sich gelegentlich auf hitzige Diskussionen mit dem radikalen Agitator ein, als den er Nassmacher ansah.
Ein weiterer Grund, die freundliche Gegend um den Boxhagener Platz nicht zu verlassen, existierte seit nunmehr gut einer Woche nicht mehr: die gemeinsame, meist wortlose Fahrt zur Arbeit mit Emil Wasikowsky, der mit seiner Minna in Alt-Boxhagen dem Friedhof gegenüber gewohnt hatte. Am vergangenen Freitag hatten sie den alten Meister zu Grabe getragen. Nassmacher hatte ihn in den dreizehn Jahren seiner eigenen Tätigkeit bei Klaucke & Kutzner mehr und mehr schätzen gelernt. Ohne Wasikowsky wäre in dieser Bude wahrscheinlich seit Jahren kein einziger Meter Telegraphenkabel mehr gefertigt worden. Die Firma, noch vor dem Krieg mit ihren überalterten Bottichen und Maschinen aus einer baufälligen Remise am Ostbahngelände hierher in die Flottenstraße umgesiedelt, bestand eigentlich nur aus dem nie gesehenen Teilhaber Klaucke, dem ebenso redseligen wie unfähigen Direktor Kutzner - und Emil Wasikowsky, dem Einzigen, dem es gelang, dass am Ende der musealen Fertigungsstrecke tatsächlich daumendicke schwarze Kabel auf Trommeln gewickelt und verkauft wurden. Mit zunehmend hohem Gewinn, so wusste Nassmacher von Wasikowsky - wie überhaupt nahezu alles, was er über den Betrieb wusste, von Wasikowsky stammte.
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