Warum drängelt sich denn nun wieder das Bild mit dem Polizisten dazwischen? Eben war ich noch bei Herrn Ebeling und dem Rohrstock. Jetzt sehe ich den eklig dicken Dorfgendarm mit den ausgestellten Hosenbeinen, den hochschäftigen Stiefeln und der Revolvertasche am Koppel den Bahnhof entlanggehen. Aber das ist nicht in Neugraben! Hier sind nur Wiesen ringsherum zu sehen. Die Männer und Frauen, die auf dem Land das Glück hatten, etwas Gehamstertes in der Tasche zu haben, etwas, das eine Bauersfrau ihnen auf ihr Bitten hin gegeben hatte, oder etwas, das sie gegen einen Wertgegenstand, den sie notgedrungen opfern mussten, eingetauscht hatten, stehen noch auf dem offenen Bahnsteig. Der Zug ist noch nicht eingefahren, mit dem sie ihre Ration gegen den Hunger ihrer Familie nach Hause bringen wollen.
Aber der Zug steht schon vor dem Bahnhof vor einem Haltesignal. Alle hoffen, dass er gleich einlaufen wird. Und dann kommt der dicke Polizist. Er geht von oben her den Bahnsteig entlang und lässt die Leute das bisschen Essen, die Kartoffeln, die Äpfel oder was sie sonst ergattert haben, auf einen Haufen auf den Bahnsteig kippen. Wenn etwas Gutes dabei ist, tut er es in seinen Rucksack, den er lässig mit einem Riemen über der Schulter trägt. Alle hoffen, dass der Zug kommt, bevor sie an der Reihe sind. Aber der läuft immer noch nicht ein. So geht der vollgefressene Kerl von einem zum anderen. Einige nehmen ihre Taschen und rennen über die Gleise davon, ohne Rücksicht darauf, dass nun der Zug einläuft. Die Letzte, die der Dicke zu fassen bekommt, ist Hans’ Mutter, gerade noch bevor der Zug hält. Auch sie muss ihre Kartoffeln auf den Haufen kippen.
„So, das reicht heute für die Schweine“, sagt der Polizist.
Ich erinnere mich, Hans hatte später oft eine Abneigung gegen dicke Menschen. Aber das kann kaum von diesem einzelnen Erlebnis kommen.
Einmal ging er mit seiner Schwester und seinem kleineren Bruder alleine auf Hamstertour. Nicht weil sie es sollten. Sie fanden es spannend. Da erfuhren sie, wie schwer es war, von den Bauern ein paar Kartoffeln zu bekommen. Als sie dann vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof waren, setzten sie sich an die Böschung des Bahndammes, um lieber dort auf die Zugeinfahrt zu warten. Wegen des Polizisten, denke ich. Ein gewichtiger Bauer kam mit seinem Pferdefuhrwerk, einem Einspänner, vorbei, neben ihm auf der Sitzbank sein pausbäckiger Sohn, der die Pferdepeitsche in der Hand hatte. Als sie auf gleicher Höhe waren, schlug der vom Kutschbock aus auf Hans’ nackten Oberschenkel. Ohne ein Wort. Nur so. Er drehte sich nicht einmal mehr um, während er lachte. Und dann kam der Zug.
Wie hieß nur noch der Schulkamerad, der damals den Stock von Herrn Ebeling zu spüren bekam? Die Klassenfenster gingen nach hinten raus, nicht zur Straße. Stimmt, es war gleich nach der Pause. Hans hatte von dem Vorfall gar nichts mitbekommen.
Ebeling kam rein, mit dem Rohrstock in der Hand, und legte ihn auf seinen Tisch, der auf der Fensterseite stand. Es war damals eine Selbstverständlichkeit, dass sie aufstanden, wenn der Lehrer hereinkam.
Als sie sich wieder gesetzt hatten, sagte Ebeling: „Ewald“, ja, ich glaube, er hieß Ewald, „Ewald, komm her.“
Ewald ging nach vorn zum Ebeling.
„Was hast du gemacht?“, fragte der.
„Der Gernot hat gesagt, dass Meier da in dem Klo war. Deshalb hab ich es zugeschlossen. Aber da war Frau Bellrau drin.“ Ewald redete also gar nicht lange an seiner Sünde vorbei. Das war auch sicherlich gut so. Ebeling war ein großer, kräftiger Mann, der Typ eines an harte Arbeit gewohnten Bauern.
„Bück dich!“
Hans hat das Bild noch genau vor sich. Ewald hat wohl Erfahrung, bückt sich zunächst nur vorsichtig, seine rechte Seite zur Klasse gewandt, den Kopf zur Tür.
Ebeling nimmt den Rohrstock vom Tisch und hebt die Hand weit nach hinten. „Richtig bücken!“, herrscht er den Jungen an. „Hände an die Fußspitzen!“
Und dann, als die Hose richtig gespannt ist, saust der Stock los. Hans kann es ganz deutlich hören, wie er vibriert, durch die Luft pfeift. Ein gellender Aufschrei des Jungen folgt. Wie ein Flitzbogen schnellt er hoch, biegt den Körper weit nach hinten durch. Fast auf den Zehenspitzen steht er da und krallte die Fingerspitzen in sein Sitzfleisch.
Schon will er jammernd wieder zu seinem Platz gehen. Aber da kommt die Stimme von Herrn Ebeling dazwischen: „Nein, nein, einen gibt’s noch.“
Er lässt dem Jungen noch einen Augenblick Zeit. Ewald wimmert. Dann wieder: „Bück dich!“
Ewald mag sich nicht bücken. Es ist kein Ungehorsam. Seine Erfahrung hindert ihn. Er schafft es einfach nicht, sich nach vorne zu beugen, auch wenn er es will, die Notwendigkeit einsieht. Seine Willenskraft reicht nicht gegen das Widerstreben, gegen die Angst vor dem Stock.
„Bück dich!“
Ewald wimmert.
„Bück dich! Oder willst du dich lieber über die Bank legen?“
Ewald schüttelt den Kopf und jammert.
„Willst du dich lieber über die Bank legen?“ Ebelings Stimme wird lauter.
Ewald schüttelt wieder den Kopf. Ganz langsam und vorsichtig beugt er den Rücken.
„Tiefer!“
Ein kleines Stück schafft Ewald. Die Hose spannt sich schon etwas.
„Tiefer!“ Mit dem Stock schlägt Ebeling leicht in Ewalds Nacken. „Tiefer! Hände an die Fußspitzen!“
Ebeling hat schon weit ausgeholt. Genau in dem Augenblick, als die Fingerspitzen die Stiefelspitzen berühren, hörte man wieder das Pfeifen. Noch bevor Ewald darauf mit einer Ausgleichbewegung reagieren kann, prallt der Rohrstock erneut auf sein Gesäß. Ewald schreit auf, so laut er kann. Aber das ändert nichts an dem widerlichen, beißenden Schmerz, der sich hineinbohrt und seine Bewegungen bestimmt, das unbestimmte, ungewollte Hin und Her, von einem Bein auf das andere. Aber nun darf er an seinen Platz gehen.
Am Tag darauf gingen Ewald und Hans gemeinsam den Weg von der Schule zurück. Hans fragte ihn, wie es denn sei.
„Schlimm“, sagte der, „ganz schlimm, auch noch zu Hause.“
„Wieso? Hast du es erzählt?“
„Natürlich nicht. Aber meine Mutter hat es gesehen, beim Baden. Da hat sie mich meinem Vater gezeigt. Und dann hab ich noch mal was gekriegt.“
Ich weiß, Hans hat das damals ganz schön gemein gefunden.
Viel deutlicher aber bleibt ihm das Bild von Monika im Gedächtnis, seiner ersten Erfahrung mit dem anderen Geschlecht und dem tragischen Ende dieser Freundschaft.
Monika war etwa gleichaltrig, neun Jahre. Sie lebte als einziges Kind mit ihren Eltern in einer der anderen Baracken und besuchte auch die Schule in Fischbek. Mädchenklasse natürlich. Und nach der Schule spielte sie mit Hans und den anderen Kindern dort. Zur direkten Umgebung gehörte ein ehemaliger Luftschutzbunker, den man gesprengt hatte, aber nicht kleinteilig. Er war so stabil, dass er als schiefwinkliger Klumpen liegen gelassen worden war. Hans hat das Bild noch vor sich, von dem grauschwarzen Ungetüm, das zusammengebrochen in großen Platten dalag. Zu nichts mehr zu gebrauchen als für die Kinder, zum Spielen und zum Klettern. Besonders die Jungen turnten darauf herum, sprangen von Platte zu Platte, bis sie ganz oben waren. Es war ihr Berg, den zu bezwingen sie sich auf immer wieder anderem Weg vornahmen, an dem sie ihre Kraft auslassen und den sie besiegen konnten.
Wie war es aber zu der entscheidenden Szene gekommen? Das Bild, das ich jetzt wieder vor Augen habe, der Anblick, den zu erleben in mir jetzt, kaum möglich, aber es ist so, ein Gefühl wie Freude auslöst. Ich sehe den Jungen, wie er flink immer höher klettert, und Monika, die es nachzumachen versucht. Als sie es geschafft hat, auch da oben ankommt, muss er sie natürlich besiegen. Er mag das niedliche Mädchen mit den langen braunen Haaren und rangelt oben auf der Dachplatte mit ihr. Schließlich bringt er sie in seine Gewalt. Sie liegt auf dem Rücken, die Arme angewinkelt, die Hände nach oben, und er kniet über ihr. Mit seinen Händen hält er ihre gefangen. Sie kann sich nicht mehr wehren, vielleicht will sie es auch gar nicht. Es ist nicht seine Absicht, aber sein Siegergefühl zwingt ihn dazu. Spontan gibt er ihr einen Kuss auf den Mund. Und weil er das lustig findet, oder weil es die richtige Strafe der Unterwerfung ist, wer weiß das schon so genau, kriegt sie noch einen und noch einen und noch einen und so weiter.
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