Hugo nahm die Hand des Doubles von seiner Schulter. »Ich bin nicht abgehauen. Ich musste damals Vicky Leandros hinterherdüsen … die hatte einen Tobsuchtsanfall, weil irgendein Idiot von ihr verlangt hatte, ›Komm, Roy, wir fahr’n nach Lodz‹ zu singen.«
»Du lügst, Vicky war nicht da. Ich kann sie fragen. Ich habe die Nummer in meinem Handy.«
Hugo trat einen Schritt zurück. »Die gibt auch jedem ihre Nummer. Okay, Boy, lass uns ein anderes Mal weiter reden. Ich suche gerade jemand.«
»Genau wie ich. Aber ich habe dich gefunden«, beharrte Boy auf seinem Erfolg. »Und ich weiß jetzt auch, wo du wohnst. Also, sagen wir mal so: Ich bekomme bis morgen Mittag meine Kohle in Euro. Und sag jetzt bloß nicht, dass du keine hast. Im ›Hilton‹ wohnt man nicht umsonst. Und außerdem kannst du jederzeit deine Kreditkarte in Bewegung setzen. Denn ich werde pünktlich da sein. Und glaub nur nicht, ich weiche dir noch mal von der Seite.« Boy zeigte mit zwei gespreizten Fingern auf Hugos Augen. »Also, morgen Mittag.«
Hugo lief angewidert weiter. »Geldgieriger Sack«, murmelte er. Jetzt hatte er zwei Probleme zu viel. Er zückte sein iPhone und wählte eine Nummer.
»Ja, Hugo hier. Hier läuft was Lästiges rum. Ich bräuchte mal deine diskrete Hilfe. Wie viel? Ich löse mal meinen freien Gefallen ein. Schlagerhäschen Noonu. Ja, die sehe ich wieder, ich habe sogar ihre Handynummer. Die hoppelt auch ganz schnell für mich mal auf dem roten Hotelteppich. Also dann beweg dich. Morgen Mittag. Hilton.«
Hugo steckte das iPhone in seine Jackettasche. Er hatte die Schnauze voll, aber mit einer gewissen Unterstützung würde er ganz schnell schon wieder klare Verhältnisse herstellen. Zuerst war mal sein Ernie dran, der sich nicht an Probezeiten hielt.
Um Hugo herum floss das Bier in Strömen, und die Döner- und Hamburger-Buden verströmten das fettige Aroma, mit dem sie die ewig Hungrigen anlockten.
*
Von allen Seiten drückten nett lächelnde Jugendliche Markus laufend Ankündigungen von Disco-Nights, Striptease-Shows und Miss-Pobacke-Wahlen gleich drei- und vierfach in die Hand.
Stefest lehnte ebenso oft energisch ab und setzte seinen finstersten Blick auf, wenn auch nur ein Verteiler in seine Nähe kam.
»Schmeiß das Zeug in den nächsten Papierkorb«, riet er Müller professionell. Der sah weit und breit keinen Papierkorb und maulte: »Ich wette, hier gibt’s mehr Verteiler als Schmeißfliegen.« Stefest blickte auf Müllers Handzettel: »Ich wäre vorsichtig mit solchen Vergleichen. Du weißt doch, tausend Schmeißfliegen können nicht irren.« Müller ging mit festem Schritt auf einen offensichtlich Besoffenen los, drückte dem bis zum Scheitel Abgefüllten seine gesammelten Werbezettel in die Hand und sagte: »Ich komme in zwei Minuten zurück und hole mir alle wieder ab. Also aufpassen, nicht dass einer fehlt, nachher!«
»Aber …«, versuchte das im mittleren Alter vor sich hin trinkende Zufallsopfer einen Einwand zu formulieren.
Markus schnitt ihm scharf das Wort ab: »Kein Blatt darf verlorengehen, verstanden?!«
Das Opfer salutierte mit der freien Hand und wiederholte lallend: »Alllles klllllaar Schefff. Keinnnnn Blatt daffff velllloren gehhn. Vestannnnen.«
Markus eilte davon und verschwand im Promenadengewühl. Mit beachtlichem Tempo eilte Stefest in Richtung Bierstraße. Er hatte Durst. Müller holte ihn erst nach einer knappen Minute atemlos ein.
»Du hast ja einen Schritt am Leib …«
»Traut man so einem kleinen Dicken wie mir nicht zu, was? Ich hab’ einen Brand, das glaubst du gar nicht! Und wenn ich nicht bald was zum Löschen bekomme, artet das in einen Flächenbrand aus.«
»Das da vorn scheint diese Bierstraße zu sein«, bemühte sich Müller eilfertig um den Durst seines Chefs.
»Stell dir mal vor, du kommst jetzt an den Tresen, willst zwei Bier bestellen und dir versagt die Stimme«, merkte Stefest an und lachte dabei ein wenig hysterisch, während sie in die mit Leuchtreklame zweier deutscher Brauereien illuminierte Bierstraße einbogen. Ein Lichtermeer voller verheißungsvoller Angebote zum grenzenlosen Verzehr von Speisen und Getränken eröffnete sich ihren gierigen Blicken. Hier schien auf ein paar hundert Metern Straße die Leuchtreklame einer mittleren Kleinstadt montiert zu sein. Tresen an Tresen präsentierte sich jede Kneipe mindestens doppelt so groß wie zuhause in Deutschland. Ein Straßenzug als riesengroßer stimmungsvoller Ausschank. Dazwischen brutzelten Würste, Steaks und alle erdenklichen Fleischgerichte. Hier konnte man sich für Stunden oder Tage ins Schlaraffenland einkaufen. Wie in ganz Arenal war alles auf deutsche Besucher eingerichtet: Man sprach deutsch, man schrieb deutsch und man trank deutsches Bier.
Stefest suchte sofort Kontakt zum erstbesten Bierzapfer und öffnete die Hand, um sicherheitshalber gleich mal fünf Bier zu bestellen. Markus kam ihm lautstark zuvor. Stefest sah sich irritiert um.
»Nur für den Fall, dass dir die Stimme versagt – ich wollte nicht, dass du stammeln musst, Ernst«, versuchte sich Müller zu entschuldigen. Stefest grinste. »Na, ein bisschen müssen wir doch noch warten. In sieben Minuten wird das Pils gezapft.«
Am Nebentisch nahm man die eilige Bestellung aufmerksam zur Kenntnis. Ein stämmiger Junge aus dem Kohlenpott versuchte sie mit lauter Stimme zu provozieren: »Die sind ja am Verdursten. Ihr kommt wohl direkt aus der Wüste, was? Aus welcher Karawane seid ihr denn ausgebrochen?«
»Welches Kamel will das denn wissen?« Stefest fragte das fast beiläufig, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Das Kamel hieß Georg und verstand Spaß. Als die beiden Neuen ihr Pils in einem Zug hinunterschütteten und Stefest nochmal das Gleiche und eine Runde für den Tisch der »Wüstenkamele« bestellte, gingen Markus’ sämtliche Berührungsängste im Gelächter unter. Er selbst wäre nie in der Lage gewesen, eine dermaßen schnoddrige Antwort einfach so einem unbekannten Angetrunkenen an den Kopf zu schmeißen. Das Risiko einer gewalttätigen Auseinandersetzung war ihm immer zu groß. Rhetorisch war Müller zwar fit, aber seine Muskelmasse hätte nie ausgereicht, um in einer Schlägerei Akzente zu setzen. An so etwas hatte er nur einmal in seinem Leben teilgenommen und dabei die Bekanntschaft mit einem mehrfach vorgetragenen klassischen Leberhaken gemacht. Danach mied er Volksfeste oder sonstige Feierlichkeiten, auf denen sich Zahnärzte bereits die Patienten der nächsten Woche ansehen konnten. Stefest nutzte eine Atempause, um festzustellen: »Du hast hoffentlich deine erste Lektion gelernt?«
Markus nickte: »Nimm nie Werbezettel entgegen, bestelle jedes Bier doppelt und bleibe keinem eine Antwort schuldig.«
Stefest hob sein Glas: »Junge, mit diesem Motto kommt hier unten jeder Vertreter durch.« Die »Wüstensöhne«, wie Stefest nach dem fünften Bier nun versöhnlich die fröhliche Runde aus Bottrop nannte, stimmten zwischendurch mal einen kleinen Gesang an. Dabei schwangen sie ihre Mützen, die mit phantasiereichen Sprüchen zum Thema Alkohol bestickt waren. Stefest und Müller staunten nicht schlecht, als aus den Trinkerkehlen in sauberem Ton »Veronika, der Lenz ist da …« in der Version der Comedian Harmonists erklang. Nachdem Stefest die ganze Runde nach Lieblingsgetränken, Lieblingskneipen und Lieblingsfrauen abgefragt hatte, verließen die beiden Dienstreisenden die Stehtische inmitten der Bierstraße.
»Eins kapiere ich nicht: Was haben die Lieblingsfrauen mit den Lieblingskneipen zu tun?«, wollte Markus auf dem Heimweg wissen.
»Niemand wird gern ausgefragt. Damit wiege ich sie alle in Sicherheit. Frage immer mehr, als du wissen willst, damit weckst du kein Misstrauen«, antwortete Stefest.
»Aha.« Markus beließ es dabei und wehrte stattdessen den mittlerweile dritten Handzettelverteiler erfolgreich ab.
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