Als ein über Jahrzehnte hinweg politisch aktiver Arzt – tätig vor allem im Auftrag und im Umfeld der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (vgl. dazu Bastian 1990 und 2011) – und als großer Bewunderer des unermüdlich engagierten Rudolf Virchow möchte ich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nichts unversucht lassen, um meinen Mitmenschen das „Prinzip Vorbeugung“ in seiner weltgestaltenden Bedeutung vor Augen zu führen. Denn von kaum einen anderem Gestaltungsprinzip ist die Menschheit heute – zu ihrem eigenen Schaden! – weiter entfernt als von jenem Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“, einer uralten Menschheitserfahrung, die schon in das Buch der Weisheit, das „Tao Te King“ des alten Weisen Laotse mit den schier klassischen Worten „Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist“, Eingang gefunden hat. Aber nichts könnte dem Selbstverständnis der heute herrschenden, weil ja von der schweigenden Mehrheit leider geduldeten politischen Eliten ferner sein als just dieser Grundsatz. Da werden in immer schnellerem Tempo immer nur sehr kurzfristige Ingenieurmaßnahmen propagiert, um auf wirkliche oder vermeintliche Krisen einzuwirken, mit – schon die Wortwahl ist verräterisch! – „Kapitalspritzen“ oder „Rettungsschirmen“ und so fort … Um eine dauerhafte, nachhaltig wirksame Veränderung der gegenwärtigen Zustände ins Werk zu setzen und so das Schlimmste zu verhüten, das ja schon am Horizont heraufdämmert, geschieht so gut wie nichts, und manchmal kann sich der besorgte Zeitgenosse des Eindrucks nicht erwehren, dass die hektische, aufgeregte öffentliche Debatte um die Frage, – ich greife ein zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen hochaktuelles Beispiel auf – ob etwa Griechenland im Euro-Verbund bleiben oder zur Drachme zurückkehren soll, in der Hauptsache einem einzigen Zwecke dient, nämlich dem, Diskussionen über die wirklich wichtigen Fragen nach Möglichkeit zu verhindern. Zu diesen Themen würde etwa die drohende ökologische Katastrophe gehören, die nicht allein, aber doch in hohem Umfang auf die anthropogene und nicht etwa erst in Zukunft drohende, sondern bereits im Hier und Jetzt registrierbare Klimaerwärmung zurückzuführen ist, ebenso aber auch die durchaus auch im eigenen Land, vor allem aber weltweit festzustellende, stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die schon heute ein empörendes Ausmaß angenommen hat. Bei der Diskussion solcher Probleme stellt sich freilich rasch heraus – und eben deshalb werden sie ja auch systematisch vermieden! –, dass sie sich nicht werden meistern lassen, wenn der way of life der weltweit praktizierten kapitalistischen Konsumgesellschaft unverändert in die Zukunft extrapoliert werden soll, wie es das politische Establishment nahezu allüberall frohgemut und unverdrossen propagiert. Dieser politische Amüsierbetrieb, der gut mit der Talk-show-Medienöffentlichkeit und mit der hektischen Vergnügungssucht der Erlebnisgesellschaft zusammenstimmt, erinnert an die Katastrophe des Dampfers Titanic 1912, ein Jahrhundert vor der Niederschrift dieses Vorwortes, die sich ja vor allem deshalb ereignet hat, weil alle Vorsichtsmaßregeln zugunsten des Tempowahnes vernachlässigt worden waren. Nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg, der bei einer angemessen langsamen Fahrweise wohl vermeidbar gewesen wäre, spielte, als das Riesenschiff schon zu sinken begann, das Bordorchester immer noch eine fröhliche Melodie nach der anderen, denn man wollte so eine Panik unter den Passagieren verhindern.
Das Titanic-Desaster dient seit 1912 mit Recht – freilich auch mit geringem didaktischen Erfolg! – als Metapher, um den gefährlichen, ja selbstmörderischen Kurs der technokratischen Industriegesellschaft gleichnishaft auszudeuten. Das vorliegende Buch, an dem ich – einer Nachfrage meines Freundes und Kollegen Dietmar Hansch folgend – sehr gerne mitgearbeitet habe, verfolgt einen anderen, recht unspektakulären Weg. Es fragt weniger nach den großen, gesamtgesellschaftlichen Neuerungen, die nötig wären, damit die Menschheit auch das Ende dieses Jahrhunderts erlebt, sondern mehr nach den persönlichen Qualitäten, die wir erwerben müssen, um eben jene Veränderungen – deren Notwendigkeit von uns ja keineswegs bestritten wird! – dauerhaft und nachhaltig ins Werk setzen zu können.
Noch etwas anders ausgedrückt: Das von Karl Marx benannte Ziel einer rationalen Regelung des „menschlichen Stoffwechsels mit der Natur“ steht nach wie vor auf der Tagesordnung, aber der von Marx und vor allem von seinen Epigonen skizzierte Weg – den Menschen durch das Wirken übergeordneter, zum Teil mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteter Instanzen zum neuen, nicht mehr profitorientierten Menschen zu erziehen – ist auf der ganzen Linie gescheitert. Wir setzen anstelle der diktatorischen „Erziehung“ durch autoritäre „Erzieher“ (die selber dem Attraktor der „Giergesellschaft“ auf Dauer nicht haben entrinnen können!) auf die antiautoritäre Persönlichkeitsbildung der „Autodidakten“, die – wenn sie erst einmal von Zigtausenden als zukunftsgestaltende Notwendigkeit erkannt worden ist – durchaus ihr subversives, weltveränderndes Potential entfalten könnte …
Entfalten könnte – denn selbstredend ist der Erfolg nicht garantiert. Wir glauben allerdings daran, dass er möglich ist. Dabei sollte uns freilich klar sein: Wir haben nicht unbegrenzt Zeit. Zwar wäre es falsch, in hektische Panik (oder in panische Hektik) zu verfallen – gewiss ist aber auch: Jedes ungenutzt verstrichene Zeitquantum verändert die Kräfteverhältnisse zum Schlechteren. Und wenn erst der radioaktive Staub der im Feuer der Atombomben verglühten Städte die Abenddämmerung rötet – dann wird niemand mehr da sein, der anderen Erdenbewohnern über seinen Traum von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde erzählt …
Die schwarze Erleuchtung des John Gray – Einführung von Dietmar Hansch
Über Jahre schon hatte ich es geahnt und befürchtet. Und auch heute noch kann und will ich es eigentlich nicht akzeptieren. Entsprechend hart hat es mich dann getroffen, als ich meine düstersten Ahnungen schonungslos auf den Punkt gebracht sah – in einem Buch des bekannten britischen Sozialphilosophen John Gray (2010) mit dem Titel „Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus“. Nach Gray machen wir uns über unser Menschsein eigentlich nur Illusionen. Wir sind keine überwiegend moralisch handelnden autonomen und willensfreien Subjekte. Vielmehr werden die meisten von uns zumeist von Instinkten beherrscht und getrieben, wie andere Tiere auch. Wo immer man hinschaut – ob in die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Kultur oder die Politik – humanistische Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit oder Güte, all das sind nichts als dünne Papierkulissen, hinter denen brutal und ohne Regeln um Geld, Macht und Ruhm gerungen wird.
Es gibt keinen dauerhaften, über Jahrzehnte und Jahrhunderte sich aufbauenden sozialen Fortschritt. Die Blüte von Hochkulturen ist immer nur von historisch kurzer Dauer. Mit Zwangsläufigkeit folgt ein zivilisatorischer Verfall. Das wahrscheinlichste Zukunftsszenario ist die weitgehende oder totale Selbstvernichtung der Menschheit. Und hier kann sich Gray auf sehr gewichtige Autoritäten stützen, wie etwa den britischen Biowissenschaftler James Lovelock, der seine immense intellektuelle Kraft mit ganz zentralen Theorien und Erfindungen unter Beweis gestellt hat. Von unbegründeter Schwarzmalerei kann also hier keinesfalls die Rede sein.
Wir werden das giergetriebene Wachstum nicht begrenzen können, die Ressourcen werden ausgehen, die immer mächtiger werdenden Technologien werden irgendwann im Kampf darum auch als Waffen benutzt werden, der Klimawandel wird ein Übriges tun. Alles irdische Bemühen kann sich am Ende doch nur als eitel und vergeblich erweisen. Die Welt in ihrer derzeitigen Verfassung ist nur ein einziges postabsurdes und absolut sinnloses Theater, und zu weiten Teilen ein grausames noch dazu.
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