René, das klingt nach Bodenständigkeit deine Familie mütterlicherseits. Die können offenbar richtig malochen, das lese ich hier heraus.
Mir hätte es auch gut gefallen, Richter, in einer Familie zu leben. Väterlicherseits habe ich diese 2013 endlich gefunden, und nun suche ich noch mütterlicherseits. Und wenn ich das hier lese, erfahre ich, dass auch dieser Teil meiner Familie sehr groß ist.
„Das Dorf Altenlohm ( Abb. 3.3), das für meine Großeltern Karge, meine Eltern und für meine Schwester und mich Heimat war, liegt in Nord-Süd-Richtung auf 15°48‘ östliche Länge und erstreckt sich über etwa 3 Kilometer von 51°20‘ auf 51°74‘ nördlicher Breite. Es hatte 1944 etwa 700 Einwohner und war landwirtschaftlich geprägt. Es war keinerlei Industrie vorhanden, nur das für das tägliche Leben erforderliche Gewerbe (Fleischer, Bäcker, Kolonialwarenladen, Tischler, Schneider, Schuster) und das für die Landwirtschaft notwendige Handwerk (Schmied, Stellmacher und Sattler). 1936 gab es zwei Autos im Dorf, eines gehörte meinem Großvater, das andere dem Schneidermeister. Mein Großvater hatte einen Opel Kapitän gekauft, soweit ich weiß für 6.000 RM (ein Lehrer verdiente zur dieser Zeit etwa 200 RM im Monat). Meine Eltern machten den Führerschein, mein Großvater nicht, Tochter oder Schwiegersohn mussten ihn fahren. Ein Beispiel für das damalige Lebensgefühl ist die Führerscheinprüfung meines Vaters. Zwei Herren kamen per Fahrrad aus der 14 Kilometer entfernten Kreisstadt zur Fahrprüfung meines Vaters nach Altenlohm in die Schule.“
Das klingt so, als hättest du es selbst erlebt, Rene!
Du weißt doch, Richter, ich schreibe das hier im Namen von Oskar. Ich habe ja damals noch gar nicht gelebt. Und jetzt Ruhe, es ist noch viel zu schreiben über all das, was geschehen ist, bevor meine Mutter 1955 in den russischen Sektor kam.
„Mein Vater unterbrach den Unterricht für eine halbe Stunde. Die Schüler beschäftigten sich dann selbst, während er das Auto holte. Die beiden Herren mit meinem Vater am Steuer fuhren über einen Sandweg etwa zwei Kilometer bis zur kommunalen Kiesgrube, dort musste mein Vater das Auto wenden und zurückfahren. Die Herren stellten ihm den Führerschein aus und fuhren auf ihren Fahrrädern wieder zurück in die Stadt. Mein Vater setzte den Unterricht fort. Mein Großvater muss ein außerordentlich tüchtiger Mann gewesen sein. Er hat in fünfunddreißig Berufsjahren einen Hof mit knapp 30 ha aufgebaut (das entspricht der durchschnittlichen Größe der bäuerlichen Betriebe in dieser Region). Alle Wirtschaftsgebäude hat er neu gebaut und das Wohnhaus von Grund auf saniert ( Abb. 3.4) sowie den Maschinenpark auf den neusten Stand der damaligen Technik gebracht. In den letzten zwanzig Baujahren muss er so viel verdient haben, dass er das Hausgrundstück ( Abb. 3.5) 1926 kaufen und großzügig zu seinem Altenteil und Wohnsitz für die Familie seiner Tochter umbauen konnte ( Abb. 3.6). Gleichzeitig war es ihm möglich, ein kleines Vermögen zurückzulegen, wie er in seiner Geschichte des Hofes schreibt. Einen Teil seines Vermögens hatte er in Aktien angelegt, den anderen Teil bei mehreren Banken gewinnbringend deponiert. Er meinte, verschiedene Banken und Geldanlagen seien nötig, damit niemand nachvollziehen könne, wie viel er besitzt.“
Ich möchte hier einige Geschichten einfügen, die die Durchsetzungskraft und Fähigkeit meines Großvaters dokumentieren:
„Altenlohm hatte eine alte Dorfkirche aus dem 13. Jahrhundert. Durch die Lutherische Kirchenreformation wurde Niederschlesien evangelisch. Gegen den Willen der Bevölkerung katholisierte die Gegenreformation dieses Gebiet wieder. Altenlohm verblieb jedoch infolge seiner Grenzlage im evangelischen Herzogtum Liegnitz, so predigte der aus dem katholisch gewordenen Nachbardorf Aslau nach Altenlohm geflüchtete evangelische Pfarrer an einem Grenzgraben auf der Altenlohmer, der evangelischen Seite stehend über das Wasser zur katholischen Seite den dort versammelten Aslauer Bürgern. Auf Dauer kam die zwangskatholisierte Bevölkerung der Umgebung mehr und mehr in die Altenlohmer Kirche zum evangelischen Gottesdienst. Daraufhin wurde der Kirchenbau vergrößert und musste in den nächsten Jahrhunderten noch mehrmals erweitert werden, sodass die Kirche schließlich drei Emporen hatte und 3.000 Menschen einen Sitzplatz bot. Durch die Säkularisierung Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Kirchen in den Dörfern wieder evangelisch, die Zahl der Kirchenbesucher in Altenlohm ging dadurch ständig zurück. Der riesige, vollständig in Holz gefertigte Bau, mit Holzschindeln gedeckt, verursachte der Gemeinde erhebliche Erhaltungskosten. Am 15. Mai 1935 brach bei Reparaturarbeiten am Dach Feuer aus, die Kirche brannte vollständig nieder. Die brennenden Schindeln flogen mehr als 3 Kilometer weit. Der Turm blieb lange stehen, weil dessen brennendes Fachwerk aus uralten Eichenbalken von hoher Tragfähigkeit war. Die Hitze war so groß, dass die Glocken schmolzen und abtropften. Einen wiedererstarrten Bronzeklumpen hatte mein Großvater als Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch. Ich war einer der letzten Täuflinge in dieser Kirche ( Abb. 3.7). Altenlohm brauchte nun eine neue Kirche. Mein Großvater hatte seine eigenen Vorstellungen über deren Form und Ausgestaltung. Sie sollte nach seinem Wunsch von dem später sehr bekannt gewordenen Berliner Architekten Gerhard Langmaack entworfen und von einem bestimmten Maler, ebenfalls aus Berlin, ausgestaltet werden. Gemeinde und Kreisverwaltung sowie die evangelische Kirchensynode waren dagegen. Das sei viel zu teuer, das könne mit örtlichen Fachleuten genauso gut und billiger gemacht werden. Mein Großvater als Gemeindevorsteher und Vorstandsmitglied der Kreissynode Haynau hat sich jedoch durchgesetzt: Die neue Kirche wurde so gebaut und ausgestattet, wie er es wollte. Der Maler hat das Altarbild als Kopie des Gemäldes ‚Letztes Abendmahl‘ von Leonardo da Vinci geschaffen, die Köpfe und Gesichter jedoch sind von Altenlohmer Bürgern ( Abb. 3.10). Dieses Gemälde wurde 1999 von den Polen überpinselt und das hier wiedergegebene Foto ist leider sehr unscharf. Meine Schwester war der erste Täufling in der neuen Kirche – was für ein Zufall!“
Es gibt nur das eine Foto vom Abendmahl (Abb. 3.10) aus der Kirche, deswegen auch die schlechte Qualität.
Im Jahr 2007 haben die Polen diese Kirche originalgetreu renoviert (Abb. 3.11).
René, Kreativität kennt keine Grenzen, wie man an dem Großvater erkennen kann. Das könntest glatt du sein.
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