Ja, doch bitte lass uns nicht alles auf einmal angehen, sondern Schritt für Schritt. Ich will ja meine Mutter und mich rehabilitieren lassen, da zählen Fakten und knallharte Recherchen. Hier geht es schließlich um psychischen Mord, weswegen sich auch der BStU Dresden scheut, mit mir eine vernünftige Akteneinsicht durchzuführen, wie es der Gesetzgeber vorschreibt. Mittlerweile nerve ich die beim BStU Dresden. Und siehe da: Am 30.09.2014 bekam ich erneut Post. Darin bittet mich die Außenstelle Dresden, folgende Angaben über meinen Fall betreffende Täter zu machen: das genaue Geburtsdatum, den Geburtsort sowie Wohn- und andere Orte, die für die Recherchen in Frage kommen. Lieber BStU Dresden, ich habe nicht einmal die Handynummern von den Tätern, die ich Ihnen benannt habe, die werden sich auch hüten, mir die Daten freiwillig zu geben, und zum Schnüffler lasse ich mich nicht machen. Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Liste von mir bekannten Tätern zu erstellen mit ihrer jeweiligen Funktion, die sie zu DDR-Zeiten innehatten. Es begann mit den Mitarbeitern der Abteilung Volksbildung und endete mit dem ABV (Abschnittsbevollmächtigten), das Ganze versehen mit einem Eingangsstempel vom 23.09.2014. Seitdem herrscht Funkstille zwischen dem BStU Dresden und mir. Wie so eine Anonymisierung des BStU ausschaut, erfährt der Leser auf den nächsten Seiten.
René, jetzt hol doch mal Luft! Du platzt ja gleich.
So schlimm ist das nun auch nicht! Es hindert mich nur an der Aufarbeitung, wenn mir die Akteneinsicht verwehrt wird, aus was für Gründen auch immer.
Ich merke schon, das Thema nervt dich, richtig? Doch wat mut, dat mut, mien Jung!
Klasse rübergebracht, du Held. Klappe jetzt!
René, du hast doch die Unterlagen vom Haftkrankenhaus ungeschwärzt bekommen. Den Rest findest du in der Kinderheimakte mit Hinweisen auf die Täter. Da pfeif mal für eine kurze Zeit auf den BStU Dresden und hau in die Tasten.
Richter, wenn ich dich nicht hätte!
Ja, was wäre dann?
Die Frage kann ich dir nicht beantworten, ich kenne es ja nur mit dir und den drei anderen da oben. Als Nächstes gibt es erst einmal eine kurze Vorgeschichte, damit man sich hineinversetzen kann, wie alles begann und wo meine Mutter aufgewachsen ist, bis sie 1955 in den russischen Sektor kam.
(1) Soweit diese Verfassung die Beschränkung eines der vorstehenden Grundrechte durch Gesetz zulässt oder die nähere Ausgestaltung einem Gesetz vorbehält, muss das Grundrecht als solches unangetastet bleiben.
Das ist Akteneinsicht ganz im Sinne des BStU Dresden. Hier werden nicht nur Dritte verdeckt, nein auch sämtliche Textpassagen. Das schaut mir aus wie ein Staatsgeheimnis, welches nicht an die Öffentlichkeit darf.
Dies ist die bislang letzte Nachricht vom BStU Dresden. Sie erreichte mich, kurz bevor ich das Manuskript fertig hatte.
Ja, sag mal, René, kennst du denn nun die Namen von Tätern, deren Geburtsdatum, Anschrift und die Orte, an denen sich diese aufhalten?
Was verlangst du von mir, Richter? Wie ich schon sagte, kenne ich nicht einmal deren Handynummer. Ich finde, diese Vorgehensweise ist schon sehr merkwürdig. Mehr als eine Namensliste mit Tätern und ihrer jeweiligen Funktion zu DDR-Zeiten kann ich dem BStU Dresden nicht bieten. Ganz bestimmt werde ich den Tätern nicht zu nahe treten – das wäre nicht mein Ding. Sonst hätte ich sie schon lange übers Knie gelegt. Ich mag keine Gewalt. Das Ganze entwickelt sich zu einem großen Geheimnis, habe ich den Eindruck. Da soll wohl was im Verborgenen bleiben und nicht ans Tageslicht kommen.
(1) Zur Überwachung der Tätigkeit der Staatsorgane hat die Volkskammer das Recht und auf Antrag von einem Fünftel der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich halten. Sie können zu diesem Zweck Beauftragte entsenden.
(2) Die Gerichte und die Verwaltungen sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse oder ihrer Beauftragten um Beweiserhebung Folge zu leisten und ihre Akten auf Verlangen zur Einsichtnahme vorzulegen.
(3) Für die Beweiserhebung der Untersuchungsausschüsse finden die Vorschriften der Strafprozessordnung entsprechende Anwendung.
Zur Vorgeschichte der Familie Karge – die Familie meiner Mutter
Sag mal, René, du betreibst Recherchen bis ins kleinste Detail – was bringt dir das?
Ach, Richter, mir tut die Aufarbeitung gut, und es hilft mir über den Schmerz hinweg, wenn ich alles aufschreibe. Ein Recht auf Bildung habe ich auch, wenn es um das Thema „Recherchieren“ geht, bessere Bildungspolitik geht erst einmal nicht. Mit meinem ersten Buch habe ich mir den Kopf leer geschrieben, auch um mich damit zu beruhigen, dass ich für die Geschehnisse nichts kann. Über das, was ich in diesem zweiten Buch schreibe, lagen mir wichtige Informationen und Unterlagen erst dann vor, als ich mit dem ersten Buch fertig war. Mit dem neuen Material ist noch mehr Aufarbeitung möglich. Mir ist es auch sehr wichtig zu belegen, dass meine Mutter aus einer gutbürgerlichen Familie stammt und nicht so war, wie es das Referat Jugendhilfe Abteilung Volksbildung zu DDR-Zeiten schilderte. Übrigens: Am 9. November 2014, genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall, bekam ich folgende E-Mail:
Richter, du kennst mich. Wenn ich solche Informationen erhalte, sehe ich aus wie eine gerupfte Gans – mit viel Gänsehaut! Ich frage mich dann immer wieder: Was verheimlicht man mir beim BStU Dresden? Das sind dort doch alles ganz nette Leute. Bereits als ich meine Geschwister väterlicherseits kennenlernte, konnte ich das feststellen.
Irgendetwas verheimlicht man, etwas, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit darf. Gerade du, René, machst vieles öffentlich.
Das ist Aufarbeitung, Richter, und Geschichte aus der Zeit des Kalten Krieges.
Nicht nur aus jener Zeit, René. Wenn man dir bis heute verschweigt, dass du Geschwister und Verwandte hast, ist der Kalte Krieg noch lange nicht vorbei.
Jetzt übertreibst du aber!
Nein, das tue ich nicht. Glaub mir, da stimmt was nicht.
Egal, du Held, langsam habe ich Erfolg mit meinen Recherchen und werde bald Licht ins Dunkel bringen. An dem Abend, als diese E-Mail kam, habe ich – fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall – Verwandte fünften Grades angerufen. Mir pocht bei solchen emotionalen Themen immer das Herz. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich ein Sohn von Hannelore sei und nicht wisse, wie das mit den Verwandtschaftsverhältnissen ausschaut. Ich weiß es bis heute noch nicht so genau, woher auch? Der Mann am Telefon erzählte mir, dass er gern in Thüringen studiert hätte, was er nicht durfte. Daraufhin flüchtete er in den Westen – ursprünglich stammt er aus Schlesien. Er erzählte mir, dass meine Mutter mit einem Mann in den Osten wollte, um eine sozialistische Persönlichkeit zu werden. Aus der sozialistischen Persönlichkeit bei der SED ist nichts geworden, da hatten diktatorische Kräfte das Sagen, und jemandem aus dem Westen konnte man nicht vertrauen.
Читать дальше