Ich denke mal, dass deine Mutter eine soziale Ader hatte, so wie du, René. In der DDR herrschte eine kommunistische Diktatur, also kein sozialdemokratisches Gedankengut. Deine Mutter hat sich wohl von diesem Mann, M. M. war sein Name, blenden lassen und ist ihm gefolgt. Es musste wohl so kommen, dass sie bereits nach einem Jahr DDR im Jahr 1956 zurückwollte. Doch das ging nicht mehr. Sie befand sich in den Fängen des MfS, und was das bedeutete, muss ich dir nicht erzählen, das weißt du selbst.
Ich weiß, Richter, deshalb musste auch der erste Fluchtversuch nach einem Jahr DDR im Jahr 1956 scheitern. Meine Mutter blieb in den Fängen des MfS. Sie wurde am 13. September 1961, also einen Monat nach dem Mauerbau, angeklagt und am 10. Oktober 1961 im „Namen des Volkes“ verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit mir schwanger – von einem Mann namens Heinrich Merbitz, doch dazu komme ich später. Und jetzt, Richter, hör mir einfach nur zu und quake mir nicht rein. Es ist nicht ganz einfach, sich in Unterlagen einzulesen und sich ein Bild davon zu machen, also volle Konzentration, bitte: Am 12. November 2014 erfuhr ich von meinen Großcousins die Geschichte der Familie Karge, also von mütterlicher Seite. Zum ersten Mal hielt ich eine Familienchronik der Familie Karge in der Hand, zusammengestellt von meinen Großcousins. Meine Mutter stammt von einer wohlhabenden Familie ab.
Aber René, dann ist sie 1955 doch sicherlich nicht freiwillig in den russischen Sektor übergesiedelt!
Richter, zu diesem Thema kommen wir später. Wir beginnen erst einmal mit der Chronik, um zu erfahren, wer meine Großeltern waren. Vielleicht kann ich mich dann in die Lage meiner Mutter hineinversetzen. Die Chronik wurde von dem Bauern Hugo Karge im Jahr 1937 geschrieben. Ich erzähle das Nachfolgende aus seiner Sicht. Das macht es mir einfacher, mich fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall in die Familie meiner Mutter hineinzufühlen. Es beginnt mit einem Vorwort:
Vorwort
Durch Familienforschung konnte Hugo feststellen, dass meine Ahnen, soweit er es zurückverfolgen konnte, stets Bauern gewesen sind. Es mag also schon in meinem Blut gelegen haben, dass ich mich stets nur in Verbundenheit mit dem Boden glücklich fühlen konnte.
„Die Erhaltung und Verbesserung des Hofes war mein Lebenszweck und mein Sinn im Verein mit meiner mir treu zur Seite stehenden Ehefrau nur darauf gerichtet, es durch äußerste Tatkraft und Sparsamkeit zu erreichen, dass einmal ein Sohn den Hof schuldenfrei übernehmen kann und die anderen Kinder auch nicht mit leeren Händen vom Hof zu gehen brauchen. Im liberalistischen Zeitalter kam es aber meistens anders. Die Höfe wurden zersplittert, mussten wegen Erbteilung in andere Hände übergehen und die Kinder zerstreuten sich in alle Winde. Die Verbundenheit von Blut und Boden hörte auf, sehr zum Unglücke der Landwirtschaft. Schon damals habe ich diese Zustände als Unglück für die Bauernhöfe und deren Familien empfunden und es stets bedauert, dass nicht ebenso wie bei dem Großgrundbesitz aus diesen Höfen gebundener Besitz gemacht werden konnte. Für das Bauerntum und überhaupt für die Landwirtschaft empfinde ich die Schaffung des Erbhofgesetzes als die größte Tat des Nationalsozialismus.“
René was schreibst du denn da?
Ich zitiere Hugo Karge von 1937. Da habe ich noch nicht gelebt und meine Mutter war gerade vier Jahre alt. Also, Richter, mit den Nationalsozialisten habe ich nichts am Hut, das steht so in der Familienchronik.
„Damit hat nun jeder Bauer, der nicht vom liberalistischen Denken verseucht ist, die Gewissheit, dass der von ihm so sorgfältig gehegte und gepflegte Hof der Familie erhalten bleibt.“
René, die waren ja damals drauf!
Da hast du recht. Ich habe zu dieser Zeit noch nicht gelebt und sage heute, dass es damals eben so war, obwohl ich den Spruch überhaupt nicht mag. Herr Richter, das, was du eben erfahren hast, hat Hugo im Jahr 1937 als Vorwort geschrieben. Also Ruhe jetzt! Dass ich mit über fünfzig Jahren all das erfahre, was zu meiner Familie gehört, kann ich noch nicht in Worte fassen. Das Schreiben hilft mir dabei, es zu verarbeiten.
Lebenslauf des Friedrich Wilhelm Karge, Sohn des Bauern David Wilhelm Karge und seiner Ehefrau Johanna Christa, geb. Hache, geschrieben von seinem Sohn Hugo Karge.
„Am 23. April 1837 wurde er in Rosenau, Kreis Jauer, geboren und besuchte die Volksschule. Mit zwölf Jahren verlor er seinen Vater. Nach zweijährigem Witwenstand heiratete seine Mutter einen Bauern Sommer, welcher das väterliche Gut käuflich erwarb. Ein Jahr später starb seine Mutter bei der Geburt seines Stiefbruders. Sein Stiefvater heiratete wieder, so hatte er nun zwei Stiefeltern und wurde fremd auf dem Hof seiner Eltern. Bis zu seinem Militäreintritt erlernte er die Landwirtschaft auf dem väterlichen Hof. Da er aber keine Aussicht hatte, den Hof einmal zu erhalten, genügte er seiner Militärpflicht durch freiwilligen Eintritt bei dem Dragoner-Regiment Graf Bredow in Lüben. Als Freiwilliger musste er vier Jahre dienen. Nach Beendigung seiner Militärdienstzeit kaufte er in Altenlohm (Niederschlesien) das Bauerngut Nr. 5 und wurde am 3. Juli 1862 in der Kirche zu Waldau vermählt mit Auguste, Tochter des Bauern Hoferichter in Fellendorf, Kreis Liegnitz. Sein Leben in Altenlohm war reich an Kümmernissen. Es stellte sich wohl reicher Kindersegen ein, doch starben alle Kinder schon klein oder im schulpflichtigen Alter, zwei Kinder waren gleichzeitig im schulpflichtigen Alter verstorben und wurden an einem Tage begraben. Nur ein einziges Kind blieb von allen am Leben. Krankheiten und Todesfälle hatten viel Geld verschlungen, der Hof war klein und brachte wenig Ertrag, so trugen Kummer und Sorge dazu bei, dass auch seine Gesundheit untergraben wurde. Er verstarb am 19. August 1879 im Alter von zweiundvierzig Jahren und hinterließ eine Witwe mit dem fünfjährigen Sohne Hugo. Sein arbeitsreiches und kummervolles Leben hatte ein viel zu frühes Ende gefunden. Sein Vater war der Sohn des Bauern Samuel Karge in Lobis, Kreis Jauer, seine Ehefrau Anna Rosina, geb. Minkin. Geschrieben Altenlohm, im Jahr 1937, von Hugo Karge.“
Lebenslauf des Oskar Bruno Karge, Sohn des Bauern Friedrich Wilhelm Karge und seiner Ehefrau Auguste, geb. Hoferichter.
„Am 10. Februar 1874 wurde ich in Altenlohm geboren, in der Kirche zu Altenlohm getauft und im Elternhaus erzogen. Ich besuchte die Volksschule in Altenlohm und erlernte alsdann die Landwirtschaft im väterlichen Betrieb. Mit fünf Jahren verlor ich den Vater und erhielt ein Jahr später einen Stiefvater. Von 1894–1896 genügte ich meiner Militärdienstpflicht bei dem 1. Garde-Feldartillerie-Regiment in Berlin. Da die Mutter meine Väterei dem Stiefvater verkauft hatte, dieser aber sehr um seine außereheliche Tochter besorgt war, hatte ich wenig Aussicht, einmal meine Väterei zurückkaufen zu können. Ich erwarb daher ein Bauerngut in Rosenthal, Kreis Bunzlau, und verehelichte mich dort mit Berta Renner, Tochter des Bauern Karl Renner da selbst. In Rosenthal wurden mir zwei Kinder geboren, Oskar und Arthur.“
René, Arthur ist ja dein Opa!
Ja, Richter, genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall am 9. November weiß ich nun, wie mein Opa hieß.
„Im Laufe der Jahre ging nun der Betrieb meines Stiefvaters in Altenlohm sehr zurück, sodass er, als er verkaufen wollte, nur schwer einen Käufer finden konnte. Jedem Interessenten war der geforderte Kaufpreis von 18.000 MK (Mark) zu hoch. Da ich jedoch die gute Grundlage in Altenlohm und deren Wert sehr genau kannte, kam mir die Idee, Rosenthal abzustoßen und Altenlohm zu erwerben. Da ich Rosenthal, weil heruntergewirtschaftet, verhältnismäßig billig erworben hatte, konnte ich es nun mit einem Gewinn von 6.000 MK weiterverkaufen. Ich siedelte nach Altenlohm über und hatte hier die schwere Aufgabe, den Betrieb wieder hochzubringen. Was mir mit Gottes Hilfe gelungen ist. In Altenlohm wurde mir noch die Tochter Elsa geboren. Im Jahr 1933 habe ich mich mit meiner Ehefrau auf mein Hausgrundstück zurückgezogen und zur Ruhe gesetzt. Den Hof habe ich meinem Sohn Oskar zur selbständigen Nutzung übergeben, ohne jedoch auf die Eigentumsrechte zu verzichten. Mein Sohn Arthur hat die Verbindung von Blut und Boden gelöst und einen anderen Beruf ergriffen, ebenso meine Tochter Elsa durch ihre Verheiratung mit einem Lehrer. Obwohl mir der Hof genug Arbeit brachte, wurde es mir doch durch die spätere Mitarbeit der Kinder möglich, auch noch für die Öffentlichkeit zu wirken und übertragene Ehrenämter zu bekleiden. Schon in verhältnismäßig jungen Jahren wurde ich in die Gemeindevertretung berufen und begleitete viele Jahre das Amt eines Gemeindeschöffen. Das Amt des Gemeindevorstehers habe ich zwölf Jahre verwaltet und das Amt des Amtsvorstehers zehn Jahre. Vorsteher des Gesamtschulverbandes war ich bis zu dessen Auflösung, ebenso des Spritzenverbandes Altenlohm, Bischdorf und Pohlswinkel. Während meiner Verwaltung wurde der Gemeindeacker mit Kiesgrube gekauft, der Steigerturm errichtet und das Amtsgefängnis gebaut. Als Gründer der Wehr wurde mir von dieser ein Ehrendiplom überreicht, ebenso ein Ehrendiplom von der Gemeinde für über fünfundzwanzigjährige treue Dienstleistung. Gegenwärtig bin ich noch Vorsitzender der Elektrizitäts-Genossenschaft, Mitglied des Gemeindekirchenrates und stellvertretender Vorsitzender desselben sowie Kreissynodalvertreter und Vorstandsmitglied der Kreissynode Haynau.“
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