Doch bereits am Nachmittag, als er zuvor auch die Annahme der Spinatsuppe verweigert hatte, wurde er aus der Zelle geholt: „Sebaldt zum Zahnarzt!“
„Na also, warum nicht gleich so“, sagte er und zog sich seine Holzschuhe an.
Unten am Ausgang vor dem Kommandoleiterzimmer standen bereits vier weitere Häftlinge, zwei zum Arzt und zwei zum Zahnarzt.
Auf gings dann unter Führung eines Wachtmeisters in den klobigen Holzschuhen über den kopfsteingepflasterten Hof zum Krankenrevier. Dort mussten sie im Kellerflur warten, bis sie einzeln aufgerufen wurden.
Über den Zahnarzt hatte Sebastian vom Kalfaktor erfahren, dass der schon als Kriegsgefangener zehn Jahre beim Russen gesessen hatte, zu 25 Jahren verurteilt, dann aber vorzeitig in die DDR überstellt worden war.
Schließlich sah er ihn, als er den Behandlungsraum betrat: Ein kleiner Mann Mitte sechzig, schütteres dunkelblondes Haar und eine Brille mit kreisrunden Gläsern.
Der forderte ihn auf, im Behandlungsstuhl Platz zu nehmen und schüttelte den Kopf, als er des entstellten Gesichts ansichtig wurde. „Warum kommst du denn erst jetzt?“, fragte er vorwurfsvoll.
„Na, weil die mich nicht eher hergelassen haben. Ich war immerhin im Hungerstreik, nur deshalb sitze ich jetzt hier.“ Er sprach etwas gedämpft, sodass der Schließer an der Tür es nicht verstehen konnte.
Der Zahnarzt nickte. „Das machen die des öfteren so“, sagte er abschätzig und ebenso gedämpft mit kurzem Blick zum Wachposten. Dann sah er sich die Geschwulst an. „Das ist dir wohl klar“, sagte er, „der Zahn muss raus.“ Eine Spritze funkelte in seiner Hand und schon saß die Nadel im Oberkiefer neben der Geschwulst.
„Da ist aber Eiter drin“, bemerkte Sebastian etwas verunsichert, als der Zahnarzt die Spritze beiseite gelegt hatte.
„Ach ja …“, sagte der und Sebastian meinte ein kurzes Zögern bemerkt zu haben. Vom Zahnziehen allerdings bemerkte er nichts Die Untereiterung schien den Zahn im Kiefer schon stark gelockert zu haben. Diesen Eiter spürte er nun im Mund und spuckte ihn in eine Emailleschüssel. Eiter und ein wenig Blut, wie er feststellte.
Ob das mal gut war, das mit der Spritze, überlegte er noch, als er vom Schließer bereits wieder in den Kellerflur gebracht worden war. Irgenwo hatte er mal gehört oder gelesen, dass Eiter nicht in die Blutbahn geraten dürfe. Im Kellerflur konnte man nur stehend warten bis die andern auch verarztet worden waren. Sebastian horchte in sich hinein … doch noch bemerkte er gar nichts. Womöglich ist es wirklich nicht so schlimm. Mit der Zunge ertastete er ein großes Loch und natürlich Blut. Der Eiter war jedenfalls raus.
Dann ging’s für den Trupp der vier Gefangenen wieder zurück über den Hof in den Zellenbau.
Als Sebastian dann vor allem dem Arzt vom Zahnziehen berichtete und dabei die Spritze erwähnte, wurden seine leisen Bedenken dramatisch bestätigt.
„Was sagst du, eine Spritze?“
„Ja.“
„Der muss nicht ganz bei Trost gewesen sein! Wirklich eine Spritze?“, fragte er noch einmal und sah dabei Sebastian eindringlich an, dem nun doch klar wurde, dass etwas passiert sein musste.
„Ja“, sagte er, „neben dem Zahn in den Kiefer …“
„Das hat natürlich geblutet.“
„Ja klar, ein bisschen mit Eiter“, bestätigte Sebastian.
„Das kriegen wir schon hin“, beschwichtigte der Arzt. „Gebt mal alle eure Decken her“, wandte er sich an die anderen in der Zelle und die folgten etwas verschreckt dieser Aufforderung. „Du wirst jetzt bald hohes Fieber kriegen“, wandte er sich wieder an Sebastian, „und einen mächtigen Schüttelfrost“, fügte er hinzu. „Du legst dich jetzt gleich auf dein Bett und ziehst dir zuvor Hemd und Hose aus.“
„Warum das Hemd?“, fragte Sebastian.
„Weil du gewaltig schwitzen wirst.Wir packen dann alle Decken auf dich.“
„Warum das, wenn ich sowieso schwitzen werde?“
„Weil du tüchtig schwitzen sollst, das ist wichtig.“
Sebastian folgte den Anweisungen und harrte dann unter dem Deckenstapel der bösen Dinge die da kommen sollten.
Der Arzt stellte dann gleich noch den Abwassereimer vor Sebastians Bett ans Kopfende.
„Warum denn das?“
„Warts ab“, sagte der Arzt. „Weil du alles auskotzen wirst, einschließlich Blut und Galle.“
„Ist das schlimm?“
Sedlmayr zuckte mit den Schultern. „Was heißt schlimm? Das ist der Gang der Dinge.“
Sebastian wand sich unter dem Deckenstapel. „Das ist schwer, ich krieg’ ja kaum noch Luft“, protestierte er.
„Das musst du aushalten“, erklärte der Arzt und richtete den etwas verrutschten Deckenstapel. Wir werden noch aufpassen müssen, dass du beim Schüttelfrost nicht aus dem Bette fällst.
„Aber ich merke ja noch gar nichts.“
„Habs man nicht so eilig. Das kommt alles noch …“ Sebastian bemerkte zwar, dass ihm allmählich heiß wurde, er schob das aber auf die vielen Decken.
Der Arzt bemerkte schon bald den ersten Schweiß auf der Stirn des Patienten.
Dann, das kam ganz plötzlich, rebellierte Sebastians Magen. Er sagte das gerade noch, da krampfte der Magen sich wie zu einem Stein zusammen. Es war dann auch wie ein Stich durch den Unterleib. Er warf schnell den Kopf zur Seite und übergab sich in den Eimer, in dem noch das Abwaschwasser von den Frühstücksbechern stand. Das wiederholte sich schließlich konvulsivisch in kürzer werdenden Abständen. „Was ist denn das Grüne da?“, fragte Sebastian den Arzt.
„Galle“, sagte der.
„Und das da ist Blut …“
„Ja sicher, kleinere Blutgefäße, Äderchen die beim Krampfen geplatzt sind.“
„Ist das denn schlimm?“
„Nö“, kam es leicht zögernd, „Das sind halt die Folgen der Spritze.“ Der Arzt stand dabei neben Sebastians Bett und betrachtet den darin Liegenden ungewollt skeptisch.
Sebastian lag unter dem Deckenstapel und Schweiß lief ihm in Bächen übers Gesicht. Er hörte wie der Boxer mit Fäusten gegen die Türe hämmerte, bis ein Schließer endlich öffnete.
Dann hörte er den Arzt etwas von Behandlung und Krankenhaus reden. „Der Junge ist in großer Gefahr“, hörte er ihn sagen. Er sei Arzt, könne das beurteilen und dass es jetzt schnell gehen müsse … Der Schließer kam in die Zelle und überzeugte sich erst einmal selbst von Sebastians Zustand.
Dann schälte man ihn aus den Decken, hob ihn aus dem Bett, zog ihm die Hose an und hängte ihm das Hemd um. Auch die Holzschuhe wurden nicht vergessen, da davon auszugehen war, dass er raus und über den Hof würde gehen müssen.
„Zumindest erst mal ins Revier“, ließ der Arzt sich noch hören, „aber besser doch gleich in ein Krankenhaus.“
„Hört sich nicht so gut an“, murmelte Sebastian so undeutlich vor sich hin, dass niemand es verstand.
Der Schließer erlaubte dem Boxer endlich Sebastian die vier Stockwerke nach unten zu schleppen. Der legte sich einen Arm Sebastians um die Schulter und der Stationskalfaktor lud sich den anderen Arm auf. Und so schleppten sie ihn wie ein Gespenst aus der Zelle und die Treppen hinab. Kalfaktoren der unteren Stationen wichen bei diesem Anblick wie vor einem Geist zur Seite.
Das bekam Sebastian noch mit und vor allem ganz unten angekommen das ‚Zwerghähnchen‘, den stets steil aufgeplustert wirkenden, weil kleingewachsenen Kommandoleiter des Zellenbaus, der aus der Tür seines Büros trat: „Was ist ’n hier los?“
Der Schließer sagte was von einem Arzt in Zelle 103 und von einem gezogenen Zahn und wies dazu auf Sebastian, der dort klatschnaß mit verklebten wirren Haaren und leichenblass zwischen dem Boxer und dem Kalfaktor hing.
„Nischt da“, der Kommandoleiter richtete sich kerzengrade auf, vielleicht auch, weil ihm Sebastians Hungerstreikandrohung eingefallen war. „Das is’ ganz normal nach ’m Zahn ziehn“, und scheuchte die drei, Sebastian in der Mitte, mit einer Handbewegung die Treppen wieder hinauf. Der Schließer folgte den Dreien.
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